Autor: Klaus Wenzel

Tindersticks „Across Six Leap Years“

Tindersticks [rating=3] Zwanzig Jahre gepflegte Melancholie.

Zwanzig Jahre nach Veröffentlichung des Debüt-Albums der Tindersticks hier nun der neueste Streich der zwischenzeitlich arg dezimierten Band.

Seit 2012 ist man wieder zu fünft, was aber nicht zu grundsätzlicher stilistischer Neuausrichtung führte. Jedoch ist die aktuelle CD „Across Six Leap Years“ auch nicht der geeignete Gradmesser eines möglichen künstlerischen Neuentwurfes. Ganz im Gegenteil, denn alle zehn Songs sind bereits von früheren Veröffentlichungen der Band bekannt. Für die Buchhalter unter uns Fans: drei Titel vom 1995er Album, keines vom Debüt, ansonsten ein ausgewogener Rückblick auf das bisherige Werk mit neuen Sichtweisen, den die Band hier abliefert. Jedoch wirkt der Sound irgendwie lebendiger als früher: Die Haltung ist zwar noch grundsätzlich dieselbe – bei den Tindersticks dringt der Sonnenschein eher nicht durch die zugezogenen schwarzen Gardinen im elegant-verwohnten Salon – aber ein bisserl Tempo, sowie ein Quantum Soul und Jazz  haben die Herren zugelegt, und das bekommt ihrer Musik ausgezeichnet.

Wo andere Bands zwei Songs im Repertoire haben, den schnellen und den langsamen, haben die Tindersticks folgerichtig anderthalb zu bieten, den langsamen, klar, und den etwas beschleunigten, bisweilen und beinahe gar einen schnelleren, wobei ihnen zu lauschen immer auch eine Reise in ein musikalisches Universum der Entschleunigung bedeutet.  Was einst unter dem Stichwort „Kammerpop“ subsumiert wurde und zweifelsohne dem ausgiebigen Einsatz „klassischer“ Instrumente zu verdanken war, tendiert seit geraumer Zeit zu einem breiteren musikalischen Spektrum. Sänger Staples bleibt dennoch bei seinem angenehmen Bariton und brummelt eher schwer verständliche Texte.

Anscheinend liegt das Verfahren des Song-Recyclings der Tindersticks sogar im Trend, denn auch andere Bands greifen auf aktuellen Alben auf eigene Entwürfe und Songs zurück (etwa The Wire). Die Popmusik schafft ein „selbstreferentielles Zeichensystem“ wie es so schön heißt. Und warum soll man auch nicht eigene, frühere Arbeiten einer neuen Betrachtung unterziehen? Für Tindersticks-Kenner ergibt sich daraus sicherlich eine interessante Vergleichsarbeit, für den Rest der Hörerschaft ist „Across Six Leap Years“ als Einstieg oder für die Wiederentdeckung bestens geeignet. Musik passend zur Jahreszeit.

Bisherige Rezensionen zu den Tindersticks auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage der Tindersticks

(Foto: tindersticks.co.uk)

Ane Brun „Songs 2003–2013“

Ane Brun "Songs 2003–2013"

Ane Brun [rating=3] Umfangreiche Retrospektive.

Skandinavien: Region der Serienmörder, des Smörrebröds, der Sommersonnenwende und der sanften Sängerinnen. Stille Wasser, so klar und tief wie ein Fjord in Norwegen. Und genau daher stammt die Singer/Songwriterin Ane Brun, die in Stockholm lebt und arbeitet.

2003 erschien ihr erstes Album „Spending Time with Morgan“. Zehn Jahre und acht in Deutschland eher unbeachtete Alben später erschien kürzlich ihre retrospektive Doppel-CD, die mit 32 (!) Songs kaum Wünsche offen lässt. Darauf findet sich alte und neue Lieder, Remixes, Live-Aufnahmen, Unveröffentlichtes oder Cover-Versionen wie „Big in Japan“ von Alphaville, oder „True Colors“ von Cyndi Lauper. Herausragend: Das im Duett mit Peter Gabriel eindringlich und intensiv gesungene „Don’t give up“, das sich hinter dem Original von Gabriel und Kate Bush nicht nur nicht verstecken muss, sondern dem leicht am Kitsch kratzenden Song eine ganz eigene, neue Qualität verleiht.

Auch wenn Brun häufig in der „Indie-Folk“-Ecke steht, wird man ihrem Schaffen dadurch nicht ganz gerecht. Ihre ausdrucksstarke, klare Stimme könnte vermutlich auch das Telefonbuch der bekannten norwegischen Stadt Flekkefjord singend darbieten und sie würde bei den Zuhörern trotzdem Gänsehaut erzeugen.

Der geneigte Hörer kann ihre besondere Qualität bereits beim ersten Song der Sammlung „Humming one of your Songs“ überprüfen, das zum sparsamen Arrangement aus Bruns Akustikgitarre und Streichern melancholische Stimmung verbreitet. „My Lover will go“ hätte stimmlich dagegen fast das Zeug zum Soul-Song, wenn die Musik dazu weniger balladenhaft wäre. Der getragene Rhythmus, die  nachdenkliche Innenschau in die Psyche einer jungen Frau: Das ist in etwa der musikalische Kosmus von Bruns eigenen Kompositionen, die stets geschmackvoll daher kommen. Doch sie kann auch anders, wie die Duette mit Ron Sexsmith und anderen zeigen, wo es schon mal fröhlicher im leicht trunkenen Takt unbefangen zur Sache geht. Mit dem „Treehouse Song“ oder „One“ zeigt sie eine weitere, fast schlagerhafte Facette ihres Wirkens.

„Songs 2003–2013“ bietet für Fans und Einsteiger gleichermaßen einen guten Überblick über Bruns Schaffen. Ein Tipp für alle, die Singer/Songwriterinnen und sanfte Klänge mögen. Passt gut zum kommenden Herbst, funktioniert aber auch an lauen Sommerabenden.

Offizielle Website von Ane Brun

 

Dawanggang „Wild Tune Stray Rhythm“

DaWangGang [rating=3] Widerborstige Weltmusik aus China.

Weltmusik aus China, aber keine Angst: Hier treten nicht farbenfroh gekleidete Künstler mit fürs internationale Pop-Publikum glatt gebürsteten ‚exotischen‘ Melodien aus dem Synthie und ‚lieblichen‘ Sängerinnen auf, hier erwartet den Hörer etwas wahrhaft Ungewohntes: eine widerborstige Mixtur aus diversen Saiteninstrumenten, Samples, Elektronik, Pferdekopfgeige, Maultrommel, Perkussion, Obertongesang und anderen Instrumenten. Das hört sich sonderbar an und das ist es auch, gleich wenn Titel wie „Meeting Two Wizzards on the Mountain Road“ mit ihrer ausgeprägten Metaphorik möglicherweise Klischees des alten China heraufbeschwören könnten. Zwar finden sich in der faszinierenden Klangmixtur, die Dawanggang heraufbeschwören natürlich Anklänge an die reiche Musiktradition Chinas oder der Mongolei, aber diese werden durchweg gegen den Strich gebürstet und mit europäischen Einflüssen aus Rock und Avantgarde gekreuzt.

Dawanggang ist ein chinesisch-europäisches Projekt des Multiinstrumentalisten Song Yuzhe. Der Titel des Albums greift einen Begriff der Pekingoper auf; wie uns die Website der Band informiert, handelt es sich dabei um eine Art „Katzenmusik“. Humor hat die Truppe also. Manchmal wirken die Titel jedoch etwas überambitioniert, die Musik zu angestrengt um Originalität und um die Vermengung von Modernität und Tradition bemüht. Gelegentlich beschleicht einen beim Hören das Gefühl, Anspielungen oder Zitate aus der europäischen Avantgarde- und Rockszene der vergangenen Jahrzehnte zu hören. Auch der Gesang kann bisweilen anstrengen, wie auch die Assoziationen zur Peking-Oper. Zum Nebenbeihören ist „Wild Tune Stray Rhythm“ wirklich nicht geeignet. Die fünf Musiker und ihre Gäste wollen die ganze Aufmerksamkeit. Können Sie haben, aber nicht allzu oft, denn dafür sind die erzeugten Klangwelten dann wieder zu ‚kunstvoll‘, obwohl Titel wie „Talking about Birds“ oder „For Children“ das nicht unbedingt nahe zulegen scheinen.

Im Gesamteindruck ergibt sich eine aufregende, wenn auch mitunter anstrengende Klangreise für die Ohren, während der Rest unserer Hülle bequem auf dem Sofa ruht und hin und wieder von den schrillen Klängen der Pferdekopfgeige aufgeschreckt wird. Gut so! Zu viel Ruhe ist auch der deutschen Eiche und dem deutschen Michel nicht bekömmlich und der Bambus biegt sich sowieso im geschmeidig im Wind.

Offizielle Website von Dawanggang
→ Dawanggang bei Soundcloud

(Bild: Jaro)

Baptist Generals „Jackleg Devotional to the Heart“

[amazon_image id=“B00C3JU4KM“ link=“true“ target=“_blank“ size=“medium“ class=“alignleft“]Baptist Generals „Jackleg Devotional to the Heart“[/amazon_image][rating=2] Sperriger Titel, sperrige Musik, seltsame Band.

The Baptist Generals sind eine sechsköpfige Band aus Denton, Texas, die seit 1998 existiert und in dieser Zeit neben zwei EPs 2003 eine CD auf dem Label Sub Pop veröffentlichten. Danach herrschte für zehn Jahre Funkstille. Das hört sich nach einer Band für Eingeweihte an – und genau das sind sie auch.

Das wird sich mit dem neuen Album nicht ändern, denn  „Jackleg Devotional to the Heart“ bietet jede Menge verschrobene Musik und dazu Texte, die alles andere als eingängig oder direkt sind. Fast könnte man von einem „Konzeptalbum“ sprechen, denn ‚des Tölpels Andacht ans Herz‘, wie der Albumtitel frei übersetzt lautet, handelt von der Liebe und ihren Irrungen und Wirrungen. Natürlich nicht in der handelsüblichen Weise von »Uh, I love you, baby«, eher schon in der Art von »You won’t answer my call« („Dog that bit you“). Aber keine Sorge: Flemmons und seine Truppe haben hintergründigen Humor und neigen deshalb nicht zum Selbstmitleid, sondern loten das Thema auf ihre eigene Art aus. Da nölt der Sänger, dass ’sie‘ genauso lügt wie seine Mutter oder dass er aus nicht aus dem Pub kann, weil keine Seife da ist und es erklingen mal folkige, mal rockige Töne, doch schon bei „Thunders and Overpasses“ oder „Broken Glass“ wird der Hörer für Augenblicke an Kraftwerks „Autobahn“ erinnert. Kein Wunder bei einer Truppe, die sich nicht alleine amerikanischem Folk-Rock, sondern ebenso dem Experiment verbunden fühlt und genauso über „3 Bromide“ singt wie über „Broken Glasses“.

Sofern möglich, wird’s beim zweiten Teil des Albums („Type B“ genannt) noch schräger. Der Folk macht Pause und filgrane Streicherarrangements treffen auf Geräusche. Konstant bleibt Flemmons nasale Stimme, die auf Dauer etwas anstrengend ist: Nein, dies ist definitv nicht die x-te Version einer ‚Indie-Rock-Band‘.

Hat sich das Warten also gelohnt? Wartete überhaupt jemand? Egal, wer Lust hat, mal etwas Unerwartetes zu hören (und Spaß daran, verrätselte Texte zu entschlüsseln), findet mit „Jacklegs Devotional to the Heart“ das Passende.

Offizielle Website der Baptist Generals

Album beim Label Sub Pop mit Klangbeispielen

Sallie Ford & The Sound Outside, 14.6.2013, Molotow, Hamburg

Sallie FordSallie Ford und ihre Band traten am Freitagabend im abrißbedrohten, angeblich einsturzgefährdeten „Molotow“ auf der Hamburger Reeperbahn auf. Honi soit qui mal y pense: Seit bayerische Investoren ihre Hände auf die ebenso schmuddeligen, wie markanten „Esso“-Häuser gelegt haben, ist auch das „Molotow“ akut gefährdet.

Sallie Ford aus Portland, Oregon und ihre Männer wissen vermutlich nichts darüber, obwohl Mrs. Ford mit zarten 17 bereits Hamburg bereiste und vergeblich das ‚Sex Museum‘ suchte, wie sie im Verlaufe des Konzertes wissen ließ. Nach einem etwas verhaltenen Anfang wurde Sallie Ford, die immer noch aussieht wie Tante Ingrid 1965 mit Schmollmund, Schmetterlingsbrille und Lockenkopf, zusehends lockerer. Analog dazu stiegen die Temperaturen im Kellerclub. Ihr fantastischer Gitarrist Jeff Munger brachte die 100 bis 150 Zuschauer mit seinen Künsten ebenso in Stimmung wie Sallie Ford mit ihrer kraftvollen Stimme. Der Rock’n’Roll mit Titeln wie „I’m addicted“ oder „Bad Boys“ fährt eben direkt ins Bein. Dazu flackerte die Disco-Kugel im liebevoll und sorgfältig heruntergekommenen Ambiente.

Obwohl sie und ihre Band wie eine brave, schüchterne Studententruppe aussehen, behauptet Sallie Ford von sich, sie sei ein „Untamed Beast“ (so der Titel ihres aktuellen Albums, Anm. d. Red.), was wir mal so stehen lassen wollen. Jedenfalls fand sie den Kontakt zum Hamburger Publikum: Sie sang, tanzte ein wenig, bearbeitete ihre Gitarre und spielte mit den Zuschauern. Ihre Stimme wurde mit jedem Song selbstbewusster und druckvoller.

Der Sound war anfangs gut ausgesteuert, mit zunehmender Lautstärke (die allerdings niemals gesundheitsgefährdend war) wurde er leider ‚breiiger‘: Der Funke sprang dennoch über. Selbst zaghafte Ansätze von ‚Stage-Diving‘ von Ms. Ford und Mr. Munger, die im Mittelpunkt der Show stehen, wurden gesichtet: Da stiegen Sallie Ford und Jeff Munger einfach mal ein, zwei Schritte von der kleinen Bühne herunter und mischen sich unters Fan-Volk. Dazu gab es für zwei Titel „Wunschkonzert“. Die Band bot eine angerauhte Version von Blondies „Heart of Glass“ und „Fist City“ von Loretta Lynn. Bei einem kleinen Singalong darf das gut gelaunte Publikum den Chor mimen und – na klar – Sallie Ford »loves Hamburg«.

Schnell vergehen so 60 Minuten. Auf und vor der Bühne nuckelt man genüsslich am Flaschenbier und bewegt, je nach Temperament, das Spielbein oder zelebriert den Freistiltanz zu den gefälligen Klängen. Es war voll aber es blieb Bewegungsfreiheit im kleinen „Molotow“ und alle hatten eine gute Zeit.

Als eine von zwei Zugaben erklang dann Bob Dylans „Walking down the Line“, einem Song aus dem Jahre 1962, der als Beleg dafür herhalten mag, dass Sallie Ford und ihre Jungs Geschmack haben und die Rock’n’Roll-Geschichte mit Gewinn studiert haben. Also keineswegs „Fuck that“ wie ein etwas herberer Titel des Konzertes hieß, sondern eher „It’s only Rock’n’Roll, but I like it“. Mehr davon, bitte!

Als die Lichter nach ungefähr 75 Minuten wieder angingen, waren Band und Publikum gleichermaßen zufrieden und man stieg aus den Katakomben der Rockmusik hinauf zur Reeperbahn, wo die trunkenen Massen lautstark ihre ‚Paadie‘ feierten …

Offizielle Homepage von Sallie Ford

(Foto: Klaus Wenzel)

Treetop Flyers „The Mountain Moves“

Treetop Flyers [rating=2] Aus dem regnerischen London des Jahres 2013 ins sonnige Kalifornien des Jahres 1973.

Die Treetop-Flyers bitten zum musikalischen Rundflug über die sonnigen Gefilde Kaliforniens. Ihre kleine Sound-Maschine hat, man staune, die Qualitäten eines Star-Trek-Kreuzers und führt die Hörer per Zeitreise unvermittelt zurück in die späten sechziger und frühen siebziger Jahre.

„Things will change“ versprechen sie auf dem ersten Titel ihrer Debüt-CD, aber bereits nach den ersten Takten meint man, eine Art zellregenerierte Version von Crosby, Stills, Nash & Young zu hören. Immerhin, dem Stephen-Stills-Song „Treetop Flyer“ verdankt die Band den Namen. Sanfter Westcoast-Sound also, und warum auch nicht? Ob du aus Süd-London, wie die Band, oder Südkalifornien kommst, ist bekanntlich ’sowas von egal‘ – zumindest solange das Ergebnis stimmt. Und das tut es, auch wenn ältere Hörer immer wieder die Originale durchklingen hören. Die Jungen freut es, denn Spielchen wie ‚Finde das Vorbild‘ und ‚Finde den Unterschied‘ sind stets aktuell. Damit der Klang ganz authentisch wirkt, begab die Band sich nach Übersee ins amerikanische Studio. Angeblich flogen draußen die Adler vorbei, während drinnen die Songs eingespielt wurden.

So nett wie diese Anekdote ist das ganze Debüt der Band. Das ist handwerklich schon mal gut gemacht, aber die eigene Handschrift darf noch  deutlicher werden. Anders als bei den Vorbildern aus den ‚old days‘ fehlen nämlich hier und da noch Ecken und Kanten. Von Dämonen wird keiner geplagt: alles im grünen Bereich, sozusagen.

Weil es von düsteren Songs aber ohnehin genug gibt und der Sommer dieses Jahr wieder nicht in unsere Gefilde zu kommen plant, erscheint das Album der Treetop Flyers genau zur rechten Zeit. Und, nicht zu verachten: Der Harmoniegesang ist besser als bei CSN&Y, die Gitarren sind gut gestimmt und der Sound klar – die Jungs haben Potential. „Is it all worth it“, fragt der letzte Titel zweifelnd und wir antworten: „geht durch“. Und: das liebevoll gestaltete Cover ist ein kleiner Extrabonbon.

Offizielle Homepage von Treetop Flyers

Treetop Flyers „The Mountain Moves“ in voller Länge auf soundcloud.com streamen

Socalled „Sleepover“

Socalled - Sleepover

Socalled [rating=3] Pralinenschachtel der Sorte ‚Wild-feiner Stilmix‘

»Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel: Man weiß nie, was als Nächstes kommt«, so eine Lebensweisheit von Forrest Gumps Mutter. Hört man „Sleepover“, den neuesten Streich des Kanadiers Josh Dolgin aka Socalled, kommt einem die Maxime von Mama Gump automatisch in den Sinn. ‚Kindergeburtstag‘ wäre eine andere passende Assoziation. Bunt und kurzweilig wirken die Songs auf „Sleepover“, die Mr. Socalled teilweise schon länger im Repertoire führt.

Das Album ist bereits zwei Jahre alt, wurde aber erst jetzt hierzulande veröffentlicht. Da rappelt die Beatbox, Funk-Bläser fallen ein und Socalled und seine Freunde erzählen seltsame Geschichten. Der Titelsong handelt davon, dass ein Durchschnittstyp mit Hornbrille und Flanellpyjama nachts unsanft von einer Horde feierwütiger Puppen aus dem Schlaf gerissen wird. Die Folge: eine Hausparty der anderen Art.

„Unlvd“ klingt dagegen wie eine Art Hybrid-Version des 1970er- und 1980er Jahre Funk – Prince lässt grüßen. Kein Wunder, denn Fred Wesley, Boban Markovic, The Mighty Sparrow oder Roxanne Shanté spielen auch alle mit und bieten mit dieser Mischung den einen oder anderen Aha- und gleichzeitigen Verfremdungseffekt. Eine  Vorgehensweise, mit der auch Bands wie Animal Collective, das LCD Soundsystem oder Popstars wie Kanye West und Madonna stilistische Anleihen aus jeder Richtung beziehen.

Damit soll nicht Beliebigkeit oder Schielen nach dem Angesagten unterstellt werden, wohl aber programmatische Absicht. Eklektizistisch ist die passende Bezeichnung für diesen Mix aus schwarzer Tanzmusik, Balkan-Bläsern, französischen Rap-Einlagen, Soul, Elektro-Funk und als ‚Topping‘ schräger Humor: eine interessante Mischung bekannter Zutaten.

Josh Dolgin hat ein Händchen für Melodien, allerdings taugen seine Songs wegen des wilden Stilgemischs eher nicht zum Ohrwurm. Trotzdem setzen sich Melodiefragmente, Textzeilen, hier ein Klarinettensolo, dort eine Fiddle oder ein Funk-Bass beim wiederholten Hören immer fester in den Gehörgängen fest, bis man sich irgendwann erstaunt dabei ertappt, dass man eine seiner Melodien vergnügt vor sich hinbrummt, über „Gummi Bears“ sinniert oder den fröhlichen Rhythmus von „Sleepover“, der ein wenig an Bläser-Bands vom Balkan erinnert, in den zwei linken Beinen spürt. Hat man gerade verstanden, dass „Work with what you got“ eine Einladung zum fröhlichen Anders- oder Man-Selbst-Sein ist, folgt mit „Springhill Mine Desaster“ ein Coversong der Dubliners und damit der Sprung zu folkloristisch angehauchten Canadiana-Klängen, die allerdings mit zurückhaltender Elektronik und Piano-Sounds angereichert sind.

„Sleepover“ ist nichts für die Liebhaber von musikalischem ‚Schniposa‘ (Schnitzel, Pommes, Salat), sondern für entdeckungslustige Hörer, die beim wiederholten Hören immer neue Details entdecken wollen. So entsteht eine Art musikalisches Gesamtkunstwerk aus einer Vielzahl von Zutaten unter reger Beteiligung guter Musiker. Josh Dolgin als Mastermind drängt sich dabei nicht in den Vordergrund, sondern fügt sich in sein Ensemble ein. Das Ergebnis ist moderne Weltmusik. Kurioserweise liefert das Album mit den Titeln 11 bis 17 selbst Remixe der ersten 10 Songs, davon gleich drei teils recht bizarre Versionen des Titelstücks und eine rasant beschleunigte Version von „Unlvd“, die einen atemlos zurücklässt.

Auf den ersten 10 Titeln von „Sleepover“ lädt er zur Pyjama-Party mit Chips, Gummibärchen und Soda, dann schmeißt er kurz die gut geölte Tanzmaschine an. „Sleepover“ ist also tatsächlich eine Art Pralinenschachtel, wobei die Mischung  nicht die ‚Feine Auslese‘ ist, sondern eine  Entdeckungsreise in Neuland. Wer sich darauf einlässt, wird mit Überraschungen musikalischer Art gut bedient.

Offizielle Homepage von Socalled

Kassette „Far“

Kassette [rating=2] Von schön wuchtig bis überwiegend kunstgewerblich

»Who needs Boys, when Girls got Guitars«, fragten einst die Voodoo Queens und droschen auf selbige ein – egal, ob Jungs oder Klampfen. Das ist eine Weile her, aber das Bedürfnis junger Frauen, Stromgitarren zu spielen, hat sich damit selbstverständlich nicht erledigt. Gut so!

Laure Betris, Mise en Scene bei Kassette, legt ihr drittes Album „Far“ vor. Was hören wir dort? Laute, sehr laute Gitarren und etwas eindimensionalen Gesang, der bei weitem nicht an die stimmlichen Möglichkeiten ihrer Landsfrau Sarah Palin heranreicht. Das macht jedoch nichts – oder zumindest nicht allzu viel. Man kann bei Laura Betris Gesang durchaus an Laurie Anderson denken, aber man könnte auch Mazzy Star heranziehen, wobei deren Sängerin weitaus statischer war. Die Klangassoziationen sind noch vielfältiger und reichen von den Stooges bis hin zur neuesten, handelsüblichen Indie-Gitarrenband.
„Lost Hills“, der Eingangssong, spielt ganz hübsch mit Laut- und Leise-Effekten und das folgende „Dream Again“ hat einen halligen, verwehten Sound, der vor allem dann gut mit dem Gesang harmoniert, wenn die Gitarrenwand die Stimme überlagert. Laut hören! Ebenso „Questioning“. Dann kommt der ‚poetische‘ Zug im Wesen der jungen Künstlerin zum Vorschein, was leicht ambitioniert – und etwa im Titelsong „Far“ – kunstgewerblich wirkt, und der Spannungsbogen sackt ab.

Gegen die Wiederholung der Ideen helfen dann die aufgedrehten Verstärker leider nicht. Immerhin: Auch die großen, britischen Vorbilder kochen nur mit Wasser. Und der direkte Sound gefällt. Er klingt, als ob Kassette die Songs teilweise live im Studio eingespielt hätten.

Auch wenn es zum zum großen, unverwechselbaren Wurf noch fehlt: ‚Sound and Vision‘ sind durchaus erkennbar. Live fegen Laure Betris und Kassette bestimmt das Bierglas vom Tisch, und für die CD gibt’s die Skip-Taste.

Offizielle Homepage von Kassette

(Foto: Irascible)

JJ & Palin „Meanwhile In Kolin“

JJ & Palin “Meanwhile In Kolin”

JJ & Palin “Meanwhile In Kolin” [rating=3] Breites Spektrum – vom gefühlvollen Sehnen bis zum energischen Vollzug.

»Was gibt es in der Schweiz?«, fragte rhetorisch einst Sir Alfred Hitchcock und antwortete gleich selbst: »Berge und Schokolade«. Deutsche mit Namen Pannen-Peer denken eher an teutonische Steuersünder und Strafaktionen zu Pferde, und die Liebhaber der Populärmusik erinnern sich vielleicht noch an Yello.

»Schön und gut«, denken die Schweizer selbst, denn sie haben schließlich eine lebendige Musikszene. Schade nur, dass diese außerhalb der Landesgrenzen eher weniger wahrgenommen wird. Dabei haben oder hatten sie, denn jüngsten Verlautbarungen der Band zufolge drehte sich das Personalkarussell bereits, mit JJ & Palin sogar eine ‚Schweizer-Indie-Supergroup‘, was aber weniger schlimm ist, als es sich anhört.

Sarah Palin ist eine Sängerin, die auf „Meanwhile in Kolin“ ein breites Spektrum stimmlicher Möglichkeiten abdeckt: vom gefühlvollen Sehnen bis zum energischen Vollzug. Das erinnert mitsamt der Musik bisweilen an Sophie Hunger, in anderen Momenten wieder an gar nichts, und das ist doch auch schon mal was. Chanson ist drin, Akustik-Pop, Jazz-Anklänge und Elektronisches, das unauffällig bleibt. Hier eine akustische Gitarre, dort die schon erwähnte Sehnsucht, ein zurückgenommenes Schlagzeug, Anleihen bei der ersten Portishead-CD und assoziative Wortspiele. Kein Frühlingssound, eher etwas für leicht neblige Wintertage oder die Abenddämmerung. Eine Kerze und die Stehlampe darf man dabei schon anmachen. Denn Frau Palin ist nicht wirklich das verhuschte Indie-Girl, als das sie sich in ihren Videos zeigt. Versponnener Sound mit – ja, doch – Humorsplittern und trötenden Posaunen. Nicht nur ernsthaft, sondern auch unterhaltsam.

Offizielle Homepage von JJ & Palin

(Foto: Irascible)

Adam Ant „Adam Ant Is The Blueblack Husar Marrying The Gunners Daughter“

Adam Ant [rating=2] Welcome to Adams World

Adam Ant war in den frühen Achtzigern der Posterboy für die Mädchen, denen Johnny Rotten zu hässlich und Ian Curtis zu depressiv war. Als „Prince Charming“ beschäftigte er eine Zeitlang die englische Musikpresse und die Hitparaden mit tanzbaren Titeln wie „Goody Two Shoes“, im Grunde ein schneller Shuffle voller Emphase für „good vibrations“ (und gegen die Laster des Rauchens und Trinkens). Daneben schauspielerte Mister Ant ein wenig.
Nach kurzer Zeit war seine Karriere vorbei, was vielleicht damit zusammenhängen mochte, dass man hinter all den Images und dem bemühten Glam, den Rollenspielen und aufwändigen Bühnenshows, nur einen ziemlich durchschnittlichen Sänger und Musiker erkannte. Ein Fall für die Achtziger-Jahre-Recycling-Revuen also, bei denen gleich ein ganzes Rudel ehemals aktueller Bands ihre alten Hits nachspielt.

Achtzehn Jahre sind seit der letzten Veröffentlichung von Adam Ant vergangen; ein Zeitraum, in dem durchschnittlich drei bis vier Generation Popstars kommen und gehen. Nun also Adam Ant als 58-jähriger, schwarzblauer Husar, der das Töchterchen des Kanoniers geheiratet hat. Die Hochzeit mit dem Töchterlein, also der Kanone, auf die Adam Ant in „Marrying The Gunner’s Daughter“ anspielt, war eine drakonische Maßnahme der britischen Kriegsmarine: Befehlsverweigerer wurden vor die Kanone gebunden und diese dann abgefeuert. Mr. Ant pflegt also britischen Humor. Er hat, wie es scheint, eine ganze Menge erlebt in jenen beinahe zwei Jahrzehnten und davon will er uns nun ausführlich in 17 Titeln darüber berichten. Da hat einer Nachholbedarf.

„Cool Zombie“ leitet Adams Husarenritt mit Slidegitarre, Koyotengeheul (sein altes Markenzeichen) und energischem Rhythmus ein, flankiert von einem Chor, der irgendwie an die Jimmy-Miller-Phase der Stones erinnert. Der Song ginge als klassische Rocknummer durch, wenn nicht fiepsende Störgeräusche und andere Merkwürdigkeiten den Eindruck trübten. Bevor man sich in den überwiegend vertrauten Gemächern des Rock’n’Roll gemütlich einrichten kann, ist der Titel schon wieder vorbei. Es folgt „Stay In The Game“, das ein bisschen daherkommt wie eine Neuauflage eines Songs von 1980: ‚flache‘ Gitarre, irgendwie verwehter Gesang, dünnes Schlagzeug. Sogleich folgt das programmatische „Marrying the Gunners Daughter“, eine Art launige Revue vergangener Zeiten, vielleicht der eigenen Karriere. Für mich typisch Adam Ant: „You Know Me, I’ve Gone Too Far“; „Vince Taylor“ hätte auch Ian-Dury-Song sein können.

Nach dieser ersten Salve läutet „Valentines“ ein Intermezzo ein, das irgendwo zwischen Syd Barrett und Schlager changiert: »I know, where the pain is, I know, where the hurt is.« Ach ja. Jetzt würden wir die erste Seite der LP umdrehen, aber es geht pausenlos weiter.
Weil Endfünfziger noch nicht völlig zum alten Eisen gehören, schmachtet Adam nun eine ungenannte Dame an, ihn wie den Dreckskerl zu behandeln, der er eben sei. Mit Drums, die sich anhören wie aus dem Computer und einem irgendwie fiesen Sound, singt er dann vom „Punk Girl“, das einem mittelalten Mann begegnet, der vermutlich Adam heißt. Es geht natürlich um Sex und um eine gehörige Portion Selbstmitleid. Noch mehr krauses Zeug bietet „Cradle Your Hatred“, bevor „Old Men, Tough Blokes“ wieder mit Punkzitaten kurzzeitig aus dem Schlummer reißt.
Das alles wäre längst genug. Die ’15 Minutes of Fame‘ sind schon seit etwa 25 Minuten vorbei, aber Adam Ant macht unerbittlich weiter, mal mit einer Donovan-Replik, dann mit einem typischen Ant-Song, hier eine Computerdrum, da ein Effekt, dort das Duett mit sich selbst. Das ist auf Dauer zappelig und nervig. Aber das war ja schon damals bei „Goody Two Shoes“ nicht anders.

Offizielle Homepage von Adam Ant

(Foto: Popup)