Autor: TheNoise

Ted Gioia „Jazz hören – Jazz verstehen“

[rating=3] Interessante Einstiegshilfe – kann Anfänger überfordern, dafür auch Versiertere erfreuen

Mit seinem neuen Buch „Jazz hören – Jazz verstehen“ möchte der Jazzpianist, Musikwissenschaftler und Buchautor Ted Gioia Normal-Sterblichen dabei helfen, Jazz kennen und lieben zu lernen. Dafür brauche es nicht viel, meint er durchaus einleuchtend, bloß Neugier und offene Ohren – und dann heißt es hören, hören, hören. Das, so seine Empfehlung, macht man sinnvoller in Konzerten als am Plattenteller. Denn Jazz lebt von Kreativität und Spontaneität. Die Improvisation, so Gioia, ist der magischste Teil der Sprache des Jazz. Und diese Magie erlebt man nicht auf Reproduktionen. Wer im „Reich der perfekten Reproduktion“ leben wolle, meint er, sei im Konzert einer Rock- oder Pop-Coverband gut aufgehoben. Jazz jedoch ist „für diejenigen, die dabei sein wollen, wenn ein Wunder passiert.“

Könnte man aber das Wesen des Jazz tatsächlich verstehen, wenn man sich einfach in den Club setzt und hört, müsste Ted Gioia keine Betriebsanleitung schreiben. Auch er kann nicht auf sezierende Analyse und theoretische Grundlagen verzichten. Diese bettet er vergleichsweise leicht verdaulich ein, indem er unterschiedliche Facetten aufgreift und anhand wegweisender Kompositionen erklärt. Dass er sich dabei auch selbst widerspricht und auch sein beständiges Credo untergräbt, dass immer die Emotionalität im Vordergrund steht, trüben das Lesevergnügen und seine Glaubwürdigkeit. Doch viele Erläuterungen und Anregungen kann man als durchaus faire Entschädigung dafür betrachten.

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(Foto: Henschel-Verlag)

Toto Bono Lokua „Bondeko“

Von ruhig bis lebhaft – mit einem eigenen Klang und drei tollen Stimmen

Musik braucht keine Worte, finden der Kameruner Jazzer Richard Bona, der kongolesische Singer/Songwriter Lokua Kanza und der französische Komponist und Multiinstrumentalist Gerald Toto mit Wurzeln in den Antillen – aber ihre sanften Stimmen wollen sie offensichtlich trotzdem nicht mit dem Scat-Stil eines Louis Armstrong zerhacken. Ihre Lösung sind Lieder in einer Phantasiesprache. Für die meisten Hörer könnten sie ruhig in einer der vielen Sprachen ihrer Heimatlänger singen – was sie gelegentlich auch tun, mit Stücken wie „Tann Tanbou A“ (Creole) und „Naleki“ (Lingala) –, denn die sind keineswegs verständlicher.
So oder so hemmt hier kein zwischenfunkendes Sprachverständnis das Hörvergnügen an den wohl überwiegend recht spontan entstandenen Stücken, bei denen der Klang des Trios im Vordergrund stand. Wichtigstes Element ist der Chorgesang der schmeichelnden Stimmen, die für die romantischen Passagen ideal sind und die quirligeren Stücke wohltuend antreiben. Und auch an zurückhaltendem Witz mangelt es nicht: Richard Bona imitiert in seinem Solo-Stück „Love Train“ die Dampflokpfeife so sanft, wie sie wohl noch nie zuvor gehört wurde.
Was vordergründig wie sanftester World-Folk wirkt, entpuppt sich beim genauen Hören als rhythmisch überaus abwechslungsreiches Album mit vergleichsweise reduzierten, aber durchdachten Arrangements.

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(Foto: No Format)

Schönholzer & Rüdisüli „Sozialplan“

[rating=4] liebevoll hintersinnig, kritisch, bissig, charmant

Schweizer Expats haben es schwer, ihren deutschen Freunden die heimische populäre Musik nahezubringen. Annähernd massenkompatible Klassiker wie Züri West und Patent Ochsner oder der noch jüngere Michael von der Heide sind musikalisch zu kommun, sodass dann doch oft Mani Matter als Beispiel für Originalität und Eigenständigkeit herhalten muss. Dessen durchweg kurze Stücke sind sogar leicht verständlich oder zumindest schnell übersetzt.

Markus Schönholzer hat einen ebenso verschmitzten Witz und spielt wie Mani Matter virtuos mit der Sprache. Seine Lieder sind hintersinnig, kritisch und bissig, und trotz unverhohlener Traurigkeit wirken viele seiner Beobachtungen überaus liebevoll. Da freut sich der Sänger über die liebliche Vogelstimme („s Lied vo de Liebi“), deren Klang ihm so vertraut ist – und erst als sie näherkommt und seinen Namen ruft, merkt er, dass es seine Frau ist, die das Lied von der Liebe singt. Markus Schönholzer lässt es nicht bei einem einfachen Liebeslied bewenden, sondern spinnt aus der Idee die Beschreibung der Rollenverhältnisse einer Beziehung. Seine Geschichten scheinen einfach, doch sie sind komplex. Wenn er über das Heimkommen sinniert („I bi wider dehei“), beschreibt er anhand scheinbar nebensächlicher Beispiele an, was sich seit dem Weggehen verändert hat und deutet wie nebenbei an, wie sich in die Heimatgefühle solche der Fremdheit mischen. Für die Beschreibung des Altwerdens („Vatter“) reichen ihm sechs kurze Zeilen mit nicht mehr als 40 Silben. Doch egal wie ernsthaft ein Thema sein mag – Schönholzer widmet sich ihm immer mit Humor.
Darüber hinaus begeistern Schönholzer & Rüdisüli mit leichtfüßig-raffinierten Arrangements, in denen schelmische Pop-Zitate – beispielsweise „Lucy in the Sky“ von den Beatles – ebenso souverän eingesetzt werden wie Ravels „Bolero“.

Auf „Sozialplan“ wird gezupft (Banjo und Gitarre), Blech geblasen und Zieharmonika gespielt. Einen wichtigen Anteil am Charme der Musik hat denn auch der Akkordeonist Robi Rüdisüli. Der langjährige musikalische Wegbegleiter von Markus Schönholzer pendelt – zurückhaltend, aber wirkungsvoll – zwischen Musette und Volkslied und komplettiert so den Wortwitz seines Compagnons mit subtil platziertem Spielwitz – das, was ein charmantes Chanson braucht.

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(Foto: Schönholzer)

Erika Stucky „Papito“

[rating=5] Von sanft bis verstörend – immer besonders

Erika Stucky kommt vom Jazz und verpasst auch Popsongs außergewöhnliche Charakterzüge. Für ihre originellen Interpretationen findet sie immer auch ungewöhnliche Konstellationen – etwa Akkordeon, Posaune und Tuba. Sie spielte mit den Young Gods Songs aus dem Dokumentarfilm über das Woodstock-Festival nach, gestaltete mit der Schweizer Popsängerin Sina einen schrägen Abend mit Walliser Sagen und mit Christy Doran ein Jimi-Hendrix-Programm.
Mit „Papito“ öffnet sie eine neue Tür – zur Klassik. Und natürlich beschränkt sie sich nicht darauf, ihre Kompositionen mit ein paar Streicher-Arrangements aufhübschen zu lassen. Sie lockt das zu den renommierten Interpreten Alter Musik zählende La Cetra Barockorchester Basel und den Countertenor Andreas Scholl zu neuen Abenteuern und lässt FM Einheit, früher bei den Einstürzenden Neubauten und heute unter anderem auch für seine Hörspiel-Arbeiten ausgezeichnet, die neue Klangwelt elektronisch unterfüttern.

Neben eigenen Kompositionen bietet Erika Stucky gefühlvolle Interpretationen etwa von Cole Porters „Ev’ry Time We Say Goodbye“ und Randy Newmans „Marie“. Bei „Tea For Two“ kommt erstmals der Countertenor Andreas Scholl ins Spiel, zu dessen Stimme die von Erika Stucky in einem reizvollen Kontrast steht. In das/Unter das romantisch interpretierte Stück mischen sich erstmals Klangbilder, die gleichermaßen sanft und verstörend sind. Bei Stephen Sondheims „Not While I’m Around“ tauchen dann die Dämonen auf und das Medley aus „Caruso“ von Lucio Dalla und „I Want You“ von den Beatles kulminiert zum Untergangsszenario.

Erika Stucky liebt schräge Inszenierungen, daher ist es schade, dass man auf dem Album die Filme nicht mitgeliefert bekommt, mit denen sie die Bühnenshow des beim Alpentöne-Festival uraufgeführten Programms garnierte. Immerhin bedient sie ihre Hörer mit einer anderen Stärke: ihrem bislang untrüglichen Gespür für musikalische Konstellationen. Stuckys Zwiesprache mit dem Countertenor Andreas Scholl und ihr immer wieder experimenteller Stimmeinsatz sind jedoch auch ohne audiovisuelles Beiwerk ein großer Genuss. Nicht minder reizvoll sind die Klangwelt des La Cetra Barockorchesters Basel, dessen historische Instrumente hier zeitgenössisch inszeniert werden, und die zurückhaltenden elektronischen Einwürfe von FM Einheit.

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(Foto: Traumton)

Anja Lechner & Alireza Mortazavi, 20.08.2017, Alpentöne-Festival, Altdorf (CH)

Das Hackbrett ist nicht nur ein typisches Instrument des Alpenraums. Daher ist es nur folgerichtig, Musiker wie den iranischen Santur-Spieler Alireza Mortazavi zum Alpentöne-Festival einzuladen. Besonders exquisit: ihm als Duettpartner nicht etwa Volksmusikanten zur Seite zu stellen, sondern die Münchner Cellistin Anja Lechner. Denn auch Mortazavi pflegt das klassische Repertoire seines Heimatlands. Beide Musiker eint der überaus gefühlvolle Ausdruck und auch die unterschiedlichen Klangfarben der Instrumente harmonieren vorzüglich.
Wie impressionistisch hingetupft wirken die oft sparsamen Melodien von Alireza Mortazavi, der sich nicht zum furiosen Crescendo aufschwingen muss, um trotzdem virtuos zu wirken. Obwohl mitunter etwas zu leise, um gegen den vollen Klang des Cellos anzukommen, ist der Klang harmonisch.
Die beiden Musiker haben gut daran getan, die Musik für sich sprechen zu lassen. Außer dem Hinweis, den Anja Lechner vor einer von Tango-Meister Dino Saluzzi für sie geschriebenen Komposition macht, verzichten sie auf Erklärungen zu den Stücken und ermöglichen so den Zuhörern, sich der Umgebung zu entrücken und voll und ganz der Musik des Duos hinzugeben, das sich umtänzelt und dabei Klänge und Melodien verwebt, sodass man sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr fragt, welches Stück gerade gespielt wird und woher es nun eigentlich stammt.

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(Foto: Alpentöne 2017/Raffi Brand)

„sCHpillit“, 20.8.2017, Alpentöne-Festival, Altdorf (CH)

Die Volksmusik diente klassischen Komponisten schon früh als Inspirationsquelle und fand so Einzug in Kompositionen beispielsweise von Béla Bartók und Gustav Mahler. 1991 – im Schweizer Pop war Mundart selbstverständlich und auch der Jazz hatte die traditionelle Musik längst aufgegriffen – vertonte Heinz Holliger mit „Alb-Chehr“ die Walliser Sage um zwei Hirten und einen übellaunigen Senn, die auf musizierende Geister treffen, was mit dem Tod des Sennen endet. Ursprünglich für die Gruppe Oberwalliser Spillit komponiert, stellt deren Nachfolgeensemble Holligers Klassiker dem Auftragswerk „Ronde des Lutins“ (Tanz der Kobolde) der Komponistin und Violinistin Helena Winkelmann gegenüber, das am Vortag beim Lucerne Festival uraufgeführt wurde.

Mit ihrer Komposition steht sie zwangsläufig in der Tradition Holligers, aber das scheint sie nicht beeindruckt zu haben. Wie bei Holliger gibt es bei Winkelmann einen Chor (so hervorragend wie die “sCHpillit“ – der Name der Gruppe, für deutsche Ohren schlicht mit Spielleuten zu übersetzen, ist ein gewaltiges Understatement), dafür keinen Erzähler und keine neuen, kuriosen Instrumente. Der Fremdheit, die neue Musik auslösen kann, begegnet die Komponistin, indem sie spröde Passagen zu atmosphärischen Sequenzen verdichtet und immer wieder die vertrauten Klänge der heimatlichen Musik integriert.

So selbstbewusst Winkelmanns „Ronde des Lutins“ die neue, traditionelle Wurzeln integrierende Musik weiterspinnt, behauptet sich Heinz Holliger „Alb-Chehr“. Schauspieler Dani Mangisch trägt die Geschichte im Stil eines Schauerromans so passend wie hervorragend vor, und die “sCHpillit“ spielen beherzt und akzentuiert, und bringen neben konventionellen klassischen und Volksmusikinstrumenten auch alpine Exoten wie das Fienschger Lädi (Streich-Psalterium), ein Bockhornophon (mit echten Ziegenhörnern), das Teenundi Titschini (abgestimmte Holzblöcke) und ein Gutteruschpil (Flaschenklavier) zum Klingen. Es ist eine düstere Geschichte – aber das Konzert endet wie jeder guter Schauerroman: mit klopfendem Herzen und Euphorie.

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(Foto: TheNoise)

Otto Lechner & Maria Kalaniemi, 19.08.2017, Alpentöne-Festival, Altdorf (CH)

Die Ankündigung, mit diesem Auftritt bei „Schubert, Sibelius und Bob Marley zu Gast“ zu sein, habe nur eine Funktion gehabt, eröffnete Otto Lechner das Konzert: «Sie hierher zu locken». Den Saal zu füllen ist wohl auch deswegen gelungen, weil sich der Wiener Akkordeonist bei vergangenen Auftritten beim Alpentöne-Festival eine Fangemeinde erspielt hat.
Ein Duett mit Maria Kalaniemi ist naheliegend, kennen sich die beiden doch bereits durch die Zusammenarbeit beim Quintett Accordion Tribe. Doch weniger ist in diesem Fall nicht mehr, die Reduktion auf die Duo-Formation zündet nicht. Mit seinem raumgreifenden Spiel lässt Otto Lechner seiner finnischen Kollegin kaum Platz. Kalaniemis Begleitung und ihre zarten Einwürfe gehen neben dem virtuos aufspielende Lechner unter. Selbst bei Stücken, die Kalaniemi ins gemeinsame Programm genommen hat, kommt ihr feinsinniges Spiel meist unter die Räder. Anstatt den Reiz auszuloten, der im Kontrast der unterschiedlichen Temperamente liegt, bewegen sich die beiden nebeneinander fort, ohne wirklich aufeinander einzugehen. Das ist zwar auch vergnüglich zu hören – aber keineswegs das, was man sich von der Zusammenarbeit solcher Kaliber verspricht.

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Alpentöne Blasorchester & Pago Libre mit Gästen, 19.08.2017, Theater Uri, Altdorf (CH)

So manches Musikfestival setzt neue musikalische Energien frei, die sonst nicht möglich wären. Das Alpentöne-Festival in Altdorf bringt dafür internationale Musiker in die Innerschweiz und inspiriert die heimischen Musiker nicht nur mit ungewöhnlichen Kollaborationen, sondern ermöglicht dem Nachwuchs den direkten Austausch.

Der irisch-schweizer Pianist und Komponist John Wolf Brennan hat mit seinem Kompositionsauftrag ein Orchester aus Amateuren mit Kollegen zusammengebracht, die er durch seine bisherige Arbeit bereits kennt – Christian Zehnder, einen der originellsten Sänger nicht nur der Schweiz, den Jazzgitarristen Christy Doran, wie Brennan irisch-schweizerischer Abstammung, die deutschen Florian Mayer (Violine) und Tom Götze (Kontrabass) sowie den russischen Alphorn- und Horn-Virtuosen Arkady Shilkloper und den gewitzten Schlagzeuger Patrice Héral aus Frankreich.

Brennans Kompositionen werden nicht nur den unterschiedlichen Protagonisten gerecht. Seine Stücke bieten wegen der unterschiedlichen Inspirationsquellen – von der Klassik über Jazz, Tango und unterschiedlichen Volksmusiken bis in zum „Tü-da-do“ des Postautos – viel Abwechslung. Dass er sie für jeweils unterschiedliche Besetzungen geschrieben hat und die ganze Bandbreite von lyrischer Beinahe-Stille bis zu beinahe überwältigender Opulenz auslotet, bereichert den Abend zusätzlich.
Und mit seinen ihm durchweg sehr vertrauten Mitstreitern, denen die Kompositionen wie auf den Leib geschrieben scheinen, geht Brennan keinerlei Risiko ein. Sie machen nicht nur schwächere Passagen vergessen, sondern heben auch schlichtere Ideen ein Treppchen höher. Christian Zehnder ist schlichtweg fulminant, und Arkady Shilkloper beherrscht seine Instrumente ohnehin wie kaum ein Zweiter. Überaus witzig ist Patrice Hérals Schlagzeugsolo ohne Schlagzeug, und als das Konzert mit einem überraschenden Kanon endet, zeigt auch der das gesamte Konzert über hinter seinem Flügel versteckte John Wolf Brennan seine witzige Seite. So kommt jeder auf seine Kosten – die nach Höhenflügen Suchenden ebenso wie diejenigen, die vor allem ihre Enkelin aus dem Tutti heraushören möchten.

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(Foto: TheNoise)

The Klezmatics, 12.8.2017, Freudenhaus, Lustenau (A)

„Ich bedanke mich beim großartigen Lustenau Yiddish Choir“, beginnt Trompeter Frank London eine seiner kurzen Ansagen, nachdem das Publikum zum wiederholten Mal der Aufforderung zum Mitsingen nachgekommen war. Bei den meisten Bands ist der Einbezug des Publikums nicht mehr als eine billige Masche, mit der sie Gemeinsamkeit und gute Laune herstellen. In der jüdischen Musikkultur gehört das jedoch ebenso zur Tradition wie das unerschöpflich erscheinende Repertoire an fröhlichen Liedern. Diese – und auch einige melancholische – finden die Klezmatics in Katalonien genauso wie in der Ukraine. Und sie schöpfen nicht nur aus dem Fundus der jüdischen Kultur, sondern steuern auch „Gonna get through this world“ aus dem Album „Wonder Wheel“ bei, für das sie unbekannte Woodie-Guthrie-Texte vertont haben.

Auch wenn die New Yorker Band auf überwiegend leichtfüßiges Liedgut setzt, werden sie nicht belanglos – inhaltlich genauso wenig wie musikalisch. Ihre überwiegend eingängige Kost wird mit jazzigen Intermezzi, mitreißenden Soli (für die vor allem Trompeter London und Saxophonist Matt Darriau verantwortlich zeichnen) und den originellen, aber immer subtil agierenden Schlagzeuger Richie Barshay aufgewertet. Zymbal und die bulgarische Flöte Kaval sorgen dafür, dass innerhalb eines Stücks erst die Sonne über der Puszta aufgeht, dann der nasale Klang der Kaval an den Orient erinnert und das Ganze schließlich als Klagelied endet. Garniert wird das üppig gewürzte Potpourri mit einer guten Portion Freiheitsgeist, der keineswegs indoktrinierend, sondern mit lebensbejahender Fröhlichkeit einhergeht. So kommen alle auf ihre Kosten, die unterhalten werden und mitsingen möchten, während auch die nicht zu kurz kommen, die musikalische Brillanz höher gewichten und sich lieber an Frank Londons Volten an der Trompete oder dem einen oder anderen geschmackvollen Basslick delektieren möchten.

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The Notwist, 21.07.2017, Poolbar-Festival, Feldkirch (A)

Seit Kraftwerk seien sie die einzige weltweit bekannte und relevante deutsche Popband, schreibt der Bayerische Rundfunk, was durchaus stimmen mag. Auch die Weilheimer Band hat einen eigenen Klangkosmos entwickelt. In der bayerischen Variante umarmen sich elektronische Klänge und Gitarren. Daraus bauen The Notwist Stücke von symphonischer Wucht, oft konterkariert von der oft melancholisch wirkenden, leicht brüchigen Stimme von Markus Acher.
Das Auftreten des Sextetts ist unprätentiös, es versprüht trotz harscher Gitarrensequenzen kaum rockige Energie, sondern verbreitet fast durchweg die nüchterne Atmosphäre eines konzentriert arbeitenden Ensembles. Das wirkt einerseits distanziert, groovt aber trotzdem – und lässt einen viel entdecken. Da huscht eine Sequenz vorbei, die erst an Sgt. Peppers erinnert, später meint man das Zitat einer der redundant quirligen Kompositionen von Philipp Glass zu vernehmen. Manche Klänge ordnet man sofort der Zeit der analogen Synthesizer zu, andere wirken wie kaum verfremdete Alltagsgeräusche. Zwischen manchen Strophen gibt es lange, endlos scheinende repetitive Passagen, bei denen Klangschicht um Klangschicht aufgebaut wird, bis ihr kontrolliert-kakophonisches Ende wieder in eine zartpoppige Melodie mündet.
The Notwist verbinden Songs aus allen Schaffensphasen (darunter „Pick Up The Phone“ vom Album „Neon Golden“, „Run Run Run“ von „Close To The Glass“ und „The Devil, You + Me“ vom gleichnamigen Album) zu einem kontinuierlichen Bogen, der nicht nur zeigt, wie treu sie ihrem Konzept geblieben sind, sondern auch, dass dieses heute noch verfängt. Ihren Ansatz weiterzuentwickeln, befriedigt The Notwist wohl mehr als die Aussicht, ihr eigenes Erbe zu verwalten und neben ihren rheinischen Kollegen im Museum archiviert zu werden.

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(Foto: TheNoise)