Autor: TheNoise

Die Nerven, 26.02.2016, Palace, St. Gallen (CH)

DSC_2988Die Bassdrum knochentrocken, hart und düster die Gitarre, einzig der Bass sorgt immer wieder für einen schummrig warmen Lichtstrahl in der Finsternis. Die Nerven präsentieren sich wie ein Schwarzweißbild, das Anton Corbijn in einem heruntergekommenen Londoner Vorort geschossen hat – grobkörnig, verwischt und trotzdem eigenartig deutlich.
Das Trio reiht seine Stücke fast nahtlos aneinander und entwickelt so einen mitreißenden Sog. Der bleibt jedoch auch dann gut akzentuiert, wenn Die Nerven ihre brachialen Klänge zu einem fürchterlichen Grollen ausbauen, das wie ein Soundtrack zu einem Endzeitfilm wirkt.

Es ist zwar weder neu, die Songs Live wesentlich härter zu bringen als auf dem Album, noch sind die Nerven die Ersten, die einen Auftritt mit Rückkoppelungs-Gewitter beenden. Das bleibt, obwohl sie es etwas überdehnen, trotzdem gewaltig. Dass das Gegenstück – die Musik zum ‚piano pianissimo‘ auf das leise Surren aus den Lautsprechern zu reduzieren – nicht funktioniert, ist hingegen nicht der Band anzulasten. Denn obwohl Sänger und Gitarrist Max Rieger mit eindeutigen Gesten um Stille bittet – zerredet das Publikum die Sequenz, die ein magischer Moment hätte werden können.

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(Foto: TheNoise)

Helge Schneider „Lass knacken, Helge!“

HelgeSchneider_LassKnackenHelge_BluRay_Cover_RGB_500[rating=2] Erfolgsrezept: mehr vom gleichen

Helge Schneider vergöttere oder verabscheue man, heißt es oft, für die Position dazwischen gebe es niemand. Tatsächlich hat er mit seinem anarchischen Humor nicht nur erstaunlich großen Erfolg, sondern das auch schon seit überraschend langer Zeit. Die Dadaisten, da bin ich sicher, würden ihn lieben. Ob Helge Schneiders Haltbarkeitsdatum vor dem dadaistischen abläuft, wird die Zukunft weisen. Noch gilt er als Unikat und außerdem als zeitlos. Daher ist es auch völlig unwesentlich, dass „Lass knacken, Helge!“ zu seinem 60. Geburtstag im vergangenen August erschienen ist.

Der um zusätzliche Passagen angereicherte Live-Mitschnitt zeigt einen Altbekannten: Er spiele „viele Lieder, schöne Lieder“, kündigt Helge Schneider zu Beginn an, zwischendurch kämen aber auch Lieder, „die nicht so reinhauen, die teilweise so richtig Scheiße sind“. Wie immer kokettiert Schneider auch im Best-of-Programm mit seiner Rolle. Mit fahrigen Ansagen – bei denen man nie weiß, was an ihnen spontan und was einstudiert ist –, der üblichen Tee-Zeremonie und natürlich mit den bekannten Stücken erfüllt er die Erwartungen seines Publikums, das sich noch immer an „Katzeklo“, „Es gibt Reis“ und „Hunderttausend Rosen“ freut.

Nichts Neues also bei Helge Schneider, aber warum denn auch? Er muss sich weder anbiedern noch anpassen, sein Erfolg spricht für sich und muss beziehungsweise kann gar nicht vergrößert werden. Denn die Nische, die sich Schneider freigeschlagen hat, ist schon erstaunlich groß. Und auch wer schräg in der Landschaft steht, kann seinen Erfolg mit den Maßnahmen verlängern, die für Mainstream-Künstler gang und gäbe sind.

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(Foto: Add On Music)

Madame Baheux, 13.11.2015, Spielboden, Dornbirn (A)

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Drei der fünf Musikerinnen von Madame Baheux repräsentieren den neuen österreichischen Vielvölkerstaat, dessen Bewohner traditionellerweise aus den Balkanstaaten kommen. Dank ihnen schreiben Madame Baheux die heimatlichen Folklore mit ihren eigenen Mitteln fort – und diese sind durchaus stattlich. Denn in der Gruppe treffen nicht nur unterschiedliche Charaktere aufeinander, sondern auch musikalische Expertise und Erfahrung.
Schon der Name der Gruppe signalisiert, dass sich die Musikerinnen nicht nur damenhaft benehmen, sondern auch einen ganz schönen Wirbel (Wienerisch: Bahö) veranstalten können. Trotzdem braucht das Quintett eine ganze Weile, um auf Touren zu kommen. Dass die erst akademisch klingende Balkan-Hausmannskost mit jazzigen Zutaten dann doch noch mitreißend wird, liegt vor allem an der Sängerin und Violinistin Jelena Popržan. Diese führt nicht nur eigenwillig durch das Programm und begeistert besonders, wenn sie im Stil der bulgarischen Vokaltradition singt und wie beim Jodeln zwischen Brust- und Falsettstimme wechselt.
Madame Baheux interpretieren ihre Volksmusik nicht nur auf ihre eigene Art, diese ist auch der Ausgangspunkt zu eigenen Stücken. Und um ihren Integrationsgrad zu beweisen, wie Jelena Popržan einem Stück verschmitzt vorwegschickt, singen sie beispielsweise auch ein Lied in einem Wiener Fantasiedialekt. Dass dieser naturgemäß kaum zu verstehen ist, tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Dieses wird sogar noch gesteigert, weil sie unüberhörbar die ausländerfeindliche Politik aufs Korn nehmen. So glänzen sie immer wieder mit der Verve, die man bei manchen, etwas verkopft erscheinenden Stücken vermisst. Andererseits: Humpta-Balkanbands gibt es ohnehin schon genügend.

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(Foto: TheNoise)

Carminho, 26.09.2015, Freudenhaus, Lustenau (A)

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2011 wurde der Fado zum Weltkulturerbe ernannt. Dass er jetzt museal verstaubt, ist ebenso wenig zu erwarten wie sein Ausverkauf. Neue Klangfarben – Einflüsse aus Jazz und lateinamerikanische Rhythmen etwa – und zumindest annähernd ungewöhnliche Besetzungen gehören schon lange zum zeitgenössischen Fado. Bei Carminho ist es der Perkussionist, der vor allem den forscheren Stücken Dampf machen soll, mit denen die ausdrucksstarke Sängerin ihre beiden Sets auflockert. Der Rest der exzellenten Truppe entspricht dem traditionellen Fado-Inventar.

Carminho, Tochter einer Fadista, findet die richtige Balance von Tradition und Moderne. Andere Einflüsse werden subtil eingewebt. Mal schimmert ein lateinamerikanischer Rhythmus hervor, dann schwebt ihre Band vom originell akzentuierten Reggae-Intro ganz zwanglos in die Saudade – von der sie weiß, dass die Zuhörer außerhalb ihres Heimatlands nicht zu viel davon vertragen. Doch die eingebauten Up-Tempo-Stücke geraten durchweg etwas zu forciert, mitunter sind sie auch etwas zu sehr aufs Mitklatschen getrimmt.
Carminho besticht vor allem bei einfühlsamen und kunstvollen Kompositionen, etwa Vinícius de Moraes‘ „Saudades do Brasil em Portugal‘. Dann akzentuiert auch Perkussionist André Silva subtiler, und die Feinheiten des Bassisten Marino de Freitas kommen besser zur Geltung. Rhythmusgitarrist Diego Clemente nutzt die seltenen Gelegenheiten, sein Talent aufblitzen zu lassen. Dafür zeigt sich Luis Guerreiro an der Portugiesischen Gitarre, er spielte auch schon für Mariza und Mísia, als Mann für jede Stimmungslage – ob gefühlvoll oder virtuos, sein Spiel lässt kaum zu wünschen übrig.

Foto: TheNoise

Ausstellung: Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in Deutschland

Popkultur im Kunstmuseum zu präsentieren ist nicht immer konfliktfrei, wie die Björk-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art (MoMa) zeigte, die dessen Direktor Klaus Biesenbach enorme Kritik einbrachte. In München kann man das gelassener sehen: Im Haus der Kunst bewegt man sich abseits des Pop und kommt daher nicht in den Ruch, für den Verkaufserfolg die Kunst der Masse zu opfern. Ausserdem werden in der Ausstellung „Geniale Dilletanten“ (26.6. – 11.10.2015) Hinterlassenschaften ausgestellt. Es geht um Geschichte, Überblick und Chronologie. Zwei Jahre nach der Ausstellung „ECM – Eine kulturelle Archäologie“, die dem Münchner Label für Jazz und zeitgenössische Klassik gewidmet war, wird nun die kurze Zeit der so genannten „Genialen Dilletanten“ beleuchtet, die so stilbildende Gruppen hervorbrachte wie die Einstürzenden Neubauten, die Deutsch-Amerikanische Freundschaft (D.A.F) und – hinter dem Eisernen Vorhang – Ornament & Verbrechen.

Die ursprünglich vom Goethe-Institut als Wanderausstellung konzipierte Ausstellung wurde für die Präsentation im Haus der Kunst erweitert. Sieben Bands – Palais Schaumburg, Der Plan, Freiwillige Selbstkontrolle, Die Tödliche Doris, Ornament & Verbrechen, Einstürzende Neubauten, D.A.F. – stehen stellvertretend für den kreativen Aus- und Aufbruch, dessen Nachwirkungen bis heute zu spüren sind. Und das nicht nur, weil manche der damals reüssierenden Musiker und Künstler heute noch aktiv sind (die Einstürzenden Neubauten eröffneten die Ausstellung mit einem eindrücklichen Konzert, sondern vor allem weil das damals propagierte „Do it yourself“-Prinzip auch nachfolgenden Musiker-Generationen zum Vorbild geworden ist.

In der Ausstellung zu sehen sind vor allem große Tafeln mit wenigen Bildern, vor denen auf einem vergleichsweise kleinen Bildschirm Videos der Bands oder Dokus flimmern – etwa über das Konzert der Einstürzenden Neubauten im Nürnberger Reichstag. Daneben gibt eseinige Artefakte, etwa ein Blasinstrument aus Gartenschlauch und Kfz-Auspuff der Gruppe Ornament & Verbrechen oder die Box „Chöre und Soli“ mit acht Miniphon-Schallplatten und einem batteriebetriebenen Abspielgerät von Die tödliche Doris.

Indem die Ausstellung auf die Aushängeschilder fokussiert, gehen Bands wie Die Krupps, Mittagspause, Liaisons Dangeureuses oder S.Y.P.H ebenso unter wie die Tatsache, dass auch spätere Protagonisten des Techno wie Dr. Motte und Westbam als „geniale Dilettanten“ begannen.
Allerdings ist es nicht schwer, die in „Geniale Dilletanten“ präsentierten Bands als die prägendsten ihrer Zeit zu identifizieren. Ihre Wahl verdeutlicht auch, welch disparate Szenen und Sparten unter dem Begriff der genialen Dilettanten zusammengeführt wurden. Die Tödliche Doris vertreten den Bereich Performance, Markus Oehlen, Martin Kippenberger und Bernd Zimmer stehen für die Malerei. Diese ‚Neuen Wilden‘ hatten auch eine starke Bindung zur Musik. So war Markus Oehlen Mitglied der Düsseldorfer Bands Charley’s Girls und Mittagspause und Martin Kippenberger wollte als Mitbesitzer des Berliner Clubs SO36 Punk, New Wave und bildende Kunst verbinden.
Bernd Zimmers monumentales, sich über zwei Räume umspannende Gemälde „1/10 Sekunde vor der Warschauer Brücke. Stadtbild 3/28“ hält die Ausstellung gewissermaßen zusammen. Das Bild übermittelt eigenartigerweise fast mehr noch als so manches Video die fiebrige Energie der Berliner Nächte in Dschungel, Exil und SO36.

El Zitheracchi „Modernes Raubzithertum“

Zitheracchi[rating=3] Feinfühlig, traditionell-modern

Raubzithertum – das klingt martialisch und evoziert die Rechtlosigkeit und Brutalität eines Thomas von Absberg, dem an der Seite des Götz von Berlichingen kämpfenden ‚Schrecken Frankens’. Doch El Zitheracchi ist weniger Haudegen an der Zither als Minnesänger. Und auch wenn der Künstlername wirkt, als habe er zu viele Spaghetti-Western gesehen, spielt El Zitheracchi keineswegs schneller als sein Schatten. Im Gegenteil: Er glänzt nicht durch Virtuosität, sondern durch die feinfühlige Interpretation seiner durchweg ruhigen und melodiösen Kompositionen.
Der Musiker, der sich gerne manieriert hinter der breiten Hutkrempe versteckt, spielt weltoffen, aber nicht folkloristisch. Er integriert unterschiedliche Einflüsse, ist aber auch dann kein plumper Nachahmer anderer Stile, wenn er explizit eine mittelamerikanische Volksweise zupft. Er spielt sich mit dem kontemplativen, siebeneinhalbminütigen „Bavarindi“ in Trance, lädt mit der kurzen „Zitheracchi-Suite“ zum Tanz, und mit „Schön voran“ gelingt ihm ein gefälliger Ohrwurm. Bei den meisten Stücken lässt er sich von einem Musiker begleiten; dann sorgen entweder Bass, Saxofon, Tabla, Djembé und einmal auch ein Hang für eine zusätzliche Klangfarbe, die den jeweiligen Stücken gut tut.

Offizielle Homepage von El Zitheracchi

(Foto: Galileo)

Andreas Dorau/Sven Regener „Ärger mit der Unsterblichkeit“

Dorau_Unsterblichkeit [rating=2] Mäßig gut, aber offen und selbstkritisch erzählte Anekdötchen aus dem Leben eines Fast-Popstars.

Andreas Dorau zählt zu den skurrilen Figuren der deutschen Popmusik. Als Schüler wurde er durch einen Zufallstreffer zu einem der Aushängeschilder der Neuen Deutschen Welle. Sein Song „Fred vom Jupiter“, der es in der österreichischen Hitparade auf Platz 13 und in Deutschland auf Platz 21 schaffte, darf auf keinem NDW-Sampler fehlen. Obwohl er weder als Musiker noch als Filmemacher durchschlagende Erfolge erzielte, ist er heute noch eine feste (Szene)Größe. Er veröffentlicht – wenn auch in großen Abständen – neue Werke, die durchweg in die Kategorie schwer vermarktbar fallen. Es fällt ihm offensichtlich nicht schwer, sich zwischen die Stühle zu setzen – eine durchaus achtenswerte Einstellung.

Doraus Erinnerungen, die von Sven Regener niedergeschrieben wurden, folgen durchweg einem Strickmuster: Auf die Erzählung einer Begebenheit aus Doraus Leben folgt eine Pointe, die mal mehr und meist weniger sitzt. Mehr als ein Schmunzeln entlocken die Texte jedoch kaum. Und die Seitenhiebe, mit denen er beispielsweise seinen ehemaligen Chef bedenkt, den aktuellen Berliner Kulturstaatssekretär, steigern den Lesegenuss ebenso wenig wie die Art, in der diese Geschichten erzählt werden. Denn selbst wenn man das Konzept der gesprochenen Sprache verfolgt, darf man eine Inspiration haben und muss nicht gleich von ihr überkommen werden. Wobei der Ton, den Sven Regener anschlägt, oft derart naiv ist, dass man sich gelegentlich fragt, ob nicht doch Ironie im Spiel ist.

Zu lesen lohnen sich die Geschichten also nicht wegen der literarischen oder sprachlichen Qualität, sondern weil Andreas Dorau ein origineller Protagonist der deutschen Musik seit den 80er-Jahren ist und weil er offenherzig ist und sich nicht scheut, seine Eigenheiten zu benennen, etwa dass er nur auf der Bühne und nur aus Angst tanze. Oder ist auch das schon wieder ein Märchen? Dorau steht zu seinen Fehlern und Fehleinschätzungen. So bekennt er etwa deutlich, sich nicht besser verhalten zu haben als die Epigonen, die die Neue Deutsche Welle in den Tod kommerzialisiert haben.

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Wikipedia-Eintrag zu Andreas Dorau

(Foto: Galiani Verlag)

Einstürzende Neubauten, 27.6.2015, Haus der Kunst, München

Welch ein Unterschied: Im ersten Stock sieht man den schlaksigen, jungen Blixa Bargeld in einer frühen, zügellos-wilden Performance. Wenig später steht der ehemalige Punk als stattlicher Grandseigneur auf der Bühne im Haus der Kunst. In den schwarzen Dreiteiler glitzernde Fäden eingewoben – schon seit Jahren tritt er auf, als ob er Brian Ferry als Beau beerben wolle – deklamiert Blixa Bargeld seine oft phantastischen Gedichte, hinter sich die Maschinerie aus selbstgebauten Instrumenten für den fulminanten Höllenlärm. Die Eruptionen sind längst nicht mehr spontan, doch auch wohlstrukturiert sind sie von mitreißender Wucht.

Das unter dem Label „Greatest Hits“ firmierende Konzert findet im Rahmen der Ausstellung „Geniale Dilletanten“ statt, die an die künstlerische Aufbruchstimmung der Achtzigerjahre erinnert. Doch auch wenn Blixa Bargeld in einer seiner wenigen, kurzen Moderationen an die Anfänge erinnert, ist der Auftritt kein sehnsuchtsvoller Rückblick auf die „guten alten Tage“. Das Set mit Kompositionen wie „Susej“, „Halber Mensch“, „Nagorny Karabach“ und mehr als zwei Dutzend weiteren zeitlosen Stücken ist der kraftvolle Beweis für die Zeitlosigkeit der Texte von Blixa Bargeld und die anhaltende Originalität, mit der die Einstürzenden Neubauten ihr musikalisches Konzept weiterentwickeln und umsetzen.
Dass sie gefühl- und gleichzeitig kraftvoll sein können, beweisen die Einstürzenden Neubauten gleich mit dem Auftakt („The Garden“). Ihre verschmitzt-verspielte Seite, die nicht so oft zum Tragen kommt, zeigen sie bei „Sabrina“, das Blixa Bargeld auch für Marianne Faithful geschrieben haben könnte. In diesem Song lässt er mit dem Akkuschrauber eine Schallplatte rotieren, die er über einen mit einem Stift versehenen Becher, der gleichzeitig Abtaster und Schalltrichter ist, hörbar macht. Solche Einlagen mögen wie ein Gag wirken. Doch egal ob N.U. Unruh eine Rettungsdecke knistern lässt oder auf Plastikrohre aus dem Baumarkt klöppelt –Instrument und Geräuschmaterial werden nicht des Effekts wegen eingesetzt, es geht immer um den Klang.

Die Einstürzenden Neubauten haben sich rasch von chaotischen Lärmerzeugern zu Erbauern von Klangskulpturen gewandelt, die immer wieder die enorme Fallhöhe zwischen den poetisch-melodischen Klängen und infernalischen Lärmkaskaden auskosten. Das gelingt ihnen auch live durchweg eindrücklich.
Zwei Stunden toben sie sich aus: Unruh und Moser dreschen auf Fässer, Rohre und Metallfedern, Hacke berserkert am Bass und Blixa Bargeld kann immer noch kreischen wie eine gewürgte Katze. Früher war das von existenzieller Dringlichkeit, heute ist es „nur“ noch Kunst
– und Blixa Bargeld säuft mit dem Publikum nicht mehr wie früher weiter, sondern schickt es mit einem gönnerhaften Lächeln und Kusshand nach Hause.

Bisherige Rezensionen zu den Einstürzenden Neubauten und zu Blixa Bargeld auf schallplattenmann.de

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Jürg Kienberger, 25.5.2015, Schloss Werdenberg, Buchs (CH)

Kienberger-1937Über den professoralen Duktus, in dem so mancher Spezialist gerne doziert, lässt sich trefflich witzeln. Jürg Kienberger, dessen Musik mit vielen Inszenierungen von Christoph Marthaler untrennbar verbunden ist, reichen ein Cord-Jackett und wenige Sätze, um sein Bühnen-Ich zwischen fadem Professor und Buchhaltertyp anzusiedeln. Passend zum breit diskutierten Bienensterben greift der Musiker, Schauspieler, Sänger und Kabarettist in seinem mittlerweile fünf Jahre alten ‚Info-Kabarett‘ „Ich Biene – ergo summ“ ein aktuelles Thema auf. Doch es geht ihm keineswegs darum, zu klagen und zu argumentieren. Kienberger mag Bienen, interessiert sich für ihr Leben und Sterben und gibt dieses gerne weiter.

Anfangs ist Kienberger der Realität des langweiligen Professors wesentlich näher als dessen Parodie. Erst nach einer Durststrecke beginnt er, seine Ausführungen mit passenden Stücken musikalisch zu illustrieren. Dafür schöpft er mehrheitlich aus dem Fundus des Popkultur-Allgemeinguts, bringt aber auch vertonte Gedichte von Konrad Bayer und Joseph Freiherr von Eichendorff. „Sex Bomb“ von Tom Jones spielt er, wenn die Drohnen darum buhlen, die Königin begatten zu dürfen, und mit „Tragedy“ von den Bee Gees kommentiert er ihr weiteres Schicksal.

Jürg Kienberger entschlackt die Stücke und reduziert den opulent arrangierten Disco-Stampfer „Tragedy“ und „Don’t Stop Me Now“ (Queen) genauso auf ihre schlicht-ergreifende Melodie wie das leichtfüssige „Lemon Tree“ von Fool’s Garden oder die Ballade „I Believe I Can fly“ von R. Kelly. Kienberger kennt seine Grenzen und überschreitet sie trotzdem. Er weiß, dass er nicht die weiche, einfühlsame Stimme eines Caetano Veloso hat, und trotzdem singt er nach Künstlern wie Caetano Veloso, Harry Belafonte, Joan Baez, Helmut Lotti und Klaus Wunderlich auch seine Version von „Cucurrucucú Paloma“ – und nicht die schlechteste. Damit zeigt Jürg Kienberger einmal mehr, dass sich Größe nicht in Perfektion ausdrückt, sondern in Originalität, in Geist und Gestus.

Die ganze Zeit über summt es mehr oder weniger vernehmlich aus einem Bienenkasten am Bühnenrand. Dass der am Schluss verstummt, kann als zu simple Botschaft verstanden werden. Aber wahrscheinlich hat sich Kienberger die nur gesucht, damit er das Publikum mit einigen Strophen aus dem Gedicht „Nachruf“ von Joseph Freiherr von Eichendorffs, die er mit fragiler Stimme zur Glasharfe singt, nachdenklich nach Hause schicken kann. Vielleicht werden sich die Konzertbesucher in Gedanken an die Zeilen »Was wollen wir singen, hier in der Einsamkeit, wenn alle von uns gingen, die unser Lied erfreut« bei der nächsten Wanderung durch die sommerlichen Blumenwiesen umso mehr am Gesumm der Bienen erfreuen.

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(Foto: TheNoise)

Orquesta Buena Vista Social Club, 28.4.2015, Seelax, Bregenz (A)

Papi_Oviedo-1579»Den Alfred Böhm«, sagt meine Mutter gelegentlich, wenn sie sich an alte Zeiten erinnert, »den hätte man in seinem Alter nicht mehr im Fernsehen auftreten lassen dürfen. Und den Heesters auch nicht, die waren ja schon peinlich.« Andererseits habe ich vor Jahren den von seiner Krankheit gezeichneten Muhammed Ali gesehen – und war von seiner Präsenz beeindruckt. Omara Portuondo, die letzte Überlebende der alten Garde des Buena Vista Social Club (Eliades Ochoa ist zwar mittlerweile auch 69, aber als jüngster der ursprünglichen Truppe immerhin noch 16 Jahre jünger als seine singende Kollegin) liegt irgendwo dazwischen. Ohne Hilfe schafft es die 85-jährige nicht mehr auf die Bühne und Tanzschritte kann sie gerade noch andeuten. Aber wenn sie ihre Stimme in den mittleren Lagen erhebt, dann erlebt man auch heute noch ausdrucksstarke Momente.

Auch wenn mit Manuel ‚Guajiro‘ Mirabal und Barbarito Torres noch zwei Mitglieder aus der Frühzeit des Buena Vista Social Club dabei sind, ist Omara Portuondo das unbestrittene Zugpferd der Gruppe. Das Publikum muss einige Stücke lang auf ihr Set warten und wird während dieser Zeit gediegen unterhalten – mit Ausreißern nach oben, wenn etwa der auch schon betagte Papi Oviedo zu einem Tres-Solo ansetzt. Wie auch der junge Jazzpianist Rolando Luna zeigt der Oldie, dass die Musik der alten kubanischen Orchester stark vom Jazz beeinflusst war und mehr als einlullende Unterhaltung bot. Immer wieder erinnern digitale Bilderschauen an die verstorbenen Mitglieder, an Größen wie Ibrahim Ferrer, Compay Segundo, Rubén González und Orlando ‚Cachaíto‘ López, an die kaum einer der Musiker heranreicht, die hier auf der Bühne stehen – oder vielleicht nicht heranreichen darf.

Omara Portuondo, die schon in den fünfziger Jahren mit Nat King Cole durch die USA tourte, wird vor allem für ihr Lebenswerk gefeiert und dafür, dass sie überhaupt noch da ist. Obwohl sie die hohen Töne ohne Anlauf nur noch schwer erreicht, bedankt sie sich für die ’standing ovations‘ mit charaktervollen Interpretationen. Und sie beweist mit zwei ruhigen Stücken, zu denen sie nur von Rolando Luna begleitet wird, dass sie dafür trotz der körperlichen Gebrechlichkeit nicht die Stütze eines Duettpartners benötigt und kein opulentes Orchester, das ihre Schwächen übertüncht.

Dass die Adios-Tour mit ihrem Abschied von der Bühne zusammenhängt, ist kein Zufall. Die alte Garde gibt es nicht mehr und auch keinen Anlass, die Musik auf die gleiche Art weiterzupflegen, die bei ihrer Entdeckung in den 90er-Jahren eine verstorbene Zeit heraufbeschwor. Es ist sicher wichtig, dass sie der Buena Vista Social Club hat wiederaufleben lassen und damit junge Musiker zur Auseinandersetzung mit dem Erbe angeregt hat. Jetzt sollen sie die Flamme auf ihre Weise in die Zukunft tragen.

Nächste Konzerte: 2.5. Ludwigsburg, 1.7. München, 2.7. Straubing, 8.7. Mainz, 10.7. Hamburg

Bisherige Rezensionen zum Buena Vista Social Club und zu Omara Portuondo auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage des Orquesta Buena Vista Social Club

(Foto: TheNoise)