Kategorie: Live – Musik spüren

Carminho, 26.09.2015, Freudenhaus, Lustenau (A)

Carminho-5713

2011 wurde der Fado zum Weltkulturerbe ernannt. Dass er jetzt museal verstaubt, ist ebenso wenig zu erwarten wie sein Ausverkauf. Neue Klangfarben – Einflüsse aus Jazz und lateinamerikanische Rhythmen etwa – und zumindest annähernd ungewöhnliche Besetzungen gehören schon lange zum zeitgenössischen Fado. Bei Carminho ist es der Perkussionist, der vor allem den forscheren Stücken Dampf machen soll, mit denen die ausdrucksstarke Sängerin ihre beiden Sets auflockert. Der Rest der exzellenten Truppe entspricht dem traditionellen Fado-Inventar.

Carminho, Tochter einer Fadista, findet die richtige Balance von Tradition und Moderne. Andere Einflüsse werden subtil eingewebt. Mal schimmert ein lateinamerikanischer Rhythmus hervor, dann schwebt ihre Band vom originell akzentuierten Reggae-Intro ganz zwanglos in die Saudade – von der sie weiß, dass die Zuhörer außerhalb ihres Heimatlands nicht zu viel davon vertragen. Doch die eingebauten Up-Tempo-Stücke geraten durchweg etwas zu forciert, mitunter sind sie auch etwas zu sehr aufs Mitklatschen getrimmt.
Carminho besticht vor allem bei einfühlsamen und kunstvollen Kompositionen, etwa Vinícius de Moraes‘ „Saudades do Brasil em Portugal‘. Dann akzentuiert auch Perkussionist André Silva subtiler, und die Feinheiten des Bassisten Marino de Freitas kommen besser zur Geltung. Rhythmusgitarrist Diego Clemente nutzt die seltenen Gelegenheiten, sein Talent aufblitzen zu lassen. Dafür zeigt sich Luis Guerreiro an der Portugiesischen Gitarre, er spielte auch schon für Mariza und Mísia, als Mann für jede Stimmungslage – ob gefühlvoll oder virtuos, sein Spiel lässt kaum zu wünschen übrig.

Foto: TheNoise

Einstürzende Neubauten, 27.6.2015, Haus der Kunst, München

Welch ein Unterschied: Im ersten Stock sieht man den schlaksigen, jungen Blixa Bargeld in einer frühen, zügellos-wilden Performance. Wenig später steht der ehemalige Punk als stattlicher Grandseigneur auf der Bühne im Haus der Kunst. In den schwarzen Dreiteiler glitzernde Fäden eingewoben – schon seit Jahren tritt er auf, als ob er Brian Ferry als Beau beerben wolle – deklamiert Blixa Bargeld seine oft phantastischen Gedichte, hinter sich die Maschinerie aus selbstgebauten Instrumenten für den fulminanten Höllenlärm. Die Eruptionen sind längst nicht mehr spontan, doch auch wohlstrukturiert sind sie von mitreißender Wucht.

Das unter dem Label „Greatest Hits“ firmierende Konzert findet im Rahmen der Ausstellung „Geniale Dilletanten“ statt, die an die künstlerische Aufbruchstimmung der Achtzigerjahre erinnert. Doch auch wenn Blixa Bargeld in einer seiner wenigen, kurzen Moderationen an die Anfänge erinnert, ist der Auftritt kein sehnsuchtsvoller Rückblick auf die „guten alten Tage“. Das Set mit Kompositionen wie „Susej“, „Halber Mensch“, „Nagorny Karabach“ und mehr als zwei Dutzend weiteren zeitlosen Stücken ist der kraftvolle Beweis für die Zeitlosigkeit der Texte von Blixa Bargeld und die anhaltende Originalität, mit der die Einstürzenden Neubauten ihr musikalisches Konzept weiterentwickeln und umsetzen.
Dass sie gefühl- und gleichzeitig kraftvoll sein können, beweisen die Einstürzenden Neubauten gleich mit dem Auftakt („The Garden“). Ihre verschmitzt-verspielte Seite, die nicht so oft zum Tragen kommt, zeigen sie bei „Sabrina“, das Blixa Bargeld auch für Marianne Faithful geschrieben haben könnte. In diesem Song lässt er mit dem Akkuschrauber eine Schallplatte rotieren, die er über einen mit einem Stift versehenen Becher, der gleichzeitig Abtaster und Schalltrichter ist, hörbar macht. Solche Einlagen mögen wie ein Gag wirken. Doch egal ob N.U. Unruh eine Rettungsdecke knistern lässt oder auf Plastikrohre aus dem Baumarkt klöppelt –Instrument und Geräuschmaterial werden nicht des Effekts wegen eingesetzt, es geht immer um den Klang.

Die Einstürzenden Neubauten haben sich rasch von chaotischen Lärmerzeugern zu Erbauern von Klangskulpturen gewandelt, die immer wieder die enorme Fallhöhe zwischen den poetisch-melodischen Klängen und infernalischen Lärmkaskaden auskosten. Das gelingt ihnen auch live durchweg eindrücklich.
Zwei Stunden toben sie sich aus: Unruh und Moser dreschen auf Fässer, Rohre und Metallfedern, Hacke berserkert am Bass und Blixa Bargeld kann immer noch kreischen wie eine gewürgte Katze. Früher war das von existenzieller Dringlichkeit, heute ist es „nur“ noch Kunst
– und Blixa Bargeld säuft mit dem Publikum nicht mehr wie früher weiter, sondern schickt es mit einem gönnerhaften Lächeln und Kusshand nach Hause.

Bisherige Rezensionen zu den Einstürzenden Neubauten und zu Blixa Bargeld auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage der Einstürzenden Neubauten

Jürg Kienberger, 25.5.2015, Schloss Werdenberg, Buchs (CH)

Kienberger-1937Über den professoralen Duktus, in dem so mancher Spezialist gerne doziert, lässt sich trefflich witzeln. Jürg Kienberger, dessen Musik mit vielen Inszenierungen von Christoph Marthaler untrennbar verbunden ist, reichen ein Cord-Jackett und wenige Sätze, um sein Bühnen-Ich zwischen fadem Professor und Buchhaltertyp anzusiedeln. Passend zum breit diskutierten Bienensterben greift der Musiker, Schauspieler, Sänger und Kabarettist in seinem mittlerweile fünf Jahre alten ‚Info-Kabarett‘ „Ich Biene – ergo summ“ ein aktuelles Thema auf. Doch es geht ihm keineswegs darum, zu klagen und zu argumentieren. Kienberger mag Bienen, interessiert sich für ihr Leben und Sterben und gibt dieses gerne weiter.

Anfangs ist Kienberger der Realität des langweiligen Professors wesentlich näher als dessen Parodie. Erst nach einer Durststrecke beginnt er, seine Ausführungen mit passenden Stücken musikalisch zu illustrieren. Dafür schöpft er mehrheitlich aus dem Fundus des Popkultur-Allgemeinguts, bringt aber auch vertonte Gedichte von Konrad Bayer und Joseph Freiherr von Eichendorff. „Sex Bomb“ von Tom Jones spielt er, wenn die Drohnen darum buhlen, die Königin begatten zu dürfen, und mit „Tragedy“ von den Bee Gees kommentiert er ihr weiteres Schicksal.

Jürg Kienberger entschlackt die Stücke und reduziert den opulent arrangierten Disco-Stampfer „Tragedy“ und „Don’t Stop Me Now“ (Queen) genauso auf ihre schlicht-ergreifende Melodie wie das leichtfüssige „Lemon Tree“ von Fool’s Garden oder die Ballade „I Believe I Can fly“ von R. Kelly. Kienberger kennt seine Grenzen und überschreitet sie trotzdem. Er weiß, dass er nicht die weiche, einfühlsame Stimme eines Caetano Veloso hat, und trotzdem singt er nach Künstlern wie Caetano Veloso, Harry Belafonte, Joan Baez, Helmut Lotti und Klaus Wunderlich auch seine Version von „Cucurrucucú Paloma“ – und nicht die schlechteste. Damit zeigt Jürg Kienberger einmal mehr, dass sich Größe nicht in Perfektion ausdrückt, sondern in Originalität, in Geist und Gestus.

Die ganze Zeit über summt es mehr oder weniger vernehmlich aus einem Bienenkasten am Bühnenrand. Dass der am Schluss verstummt, kann als zu simple Botschaft verstanden werden. Aber wahrscheinlich hat sich Kienberger die nur gesucht, damit er das Publikum mit einigen Strophen aus dem Gedicht „Nachruf“ von Joseph Freiherr von Eichendorffs, die er mit fragiler Stimme zur Glasharfe singt, nachdenklich nach Hause schicken kann. Vielleicht werden sich die Konzertbesucher in Gedanken an die Zeilen »Was wollen wir singen, hier in der Einsamkeit, wenn alle von uns gingen, die unser Lied erfreut« bei der nächsten Wanderung durch die sommerlichen Blumenwiesen umso mehr am Gesumm der Bienen erfreuen.

Offizielle Homepage von Jürg Kienberger

(Foto: TheNoise)

Orquesta Buena Vista Social Club, 28.4.2015, Seelax, Bregenz (A)

Papi_Oviedo-1579»Den Alfred Böhm«, sagt meine Mutter gelegentlich, wenn sie sich an alte Zeiten erinnert, »den hätte man in seinem Alter nicht mehr im Fernsehen auftreten lassen dürfen. Und den Heesters auch nicht, die waren ja schon peinlich.« Andererseits habe ich vor Jahren den von seiner Krankheit gezeichneten Muhammed Ali gesehen – und war von seiner Präsenz beeindruckt. Omara Portuondo, die letzte Überlebende der alten Garde des Buena Vista Social Club (Eliades Ochoa ist zwar mittlerweile auch 69, aber als jüngster der ursprünglichen Truppe immerhin noch 16 Jahre jünger als seine singende Kollegin) liegt irgendwo dazwischen. Ohne Hilfe schafft es die 85-jährige nicht mehr auf die Bühne und Tanzschritte kann sie gerade noch andeuten. Aber wenn sie ihre Stimme in den mittleren Lagen erhebt, dann erlebt man auch heute noch ausdrucksstarke Momente.

Auch wenn mit Manuel ‚Guajiro‘ Mirabal und Barbarito Torres noch zwei Mitglieder aus der Frühzeit des Buena Vista Social Club dabei sind, ist Omara Portuondo das unbestrittene Zugpferd der Gruppe. Das Publikum muss einige Stücke lang auf ihr Set warten und wird während dieser Zeit gediegen unterhalten – mit Ausreißern nach oben, wenn etwa der auch schon betagte Papi Oviedo zu einem Tres-Solo ansetzt. Wie auch der junge Jazzpianist Rolando Luna zeigt der Oldie, dass die Musik der alten kubanischen Orchester stark vom Jazz beeinflusst war und mehr als einlullende Unterhaltung bot. Immer wieder erinnern digitale Bilderschauen an die verstorbenen Mitglieder, an Größen wie Ibrahim Ferrer, Compay Segundo, Rubén González und Orlando ‚Cachaíto‘ López, an die kaum einer der Musiker heranreicht, die hier auf der Bühne stehen – oder vielleicht nicht heranreichen darf.

Omara Portuondo, die schon in den fünfziger Jahren mit Nat King Cole durch die USA tourte, wird vor allem für ihr Lebenswerk gefeiert und dafür, dass sie überhaupt noch da ist. Obwohl sie die hohen Töne ohne Anlauf nur noch schwer erreicht, bedankt sie sich für die ’standing ovations‘ mit charaktervollen Interpretationen. Und sie beweist mit zwei ruhigen Stücken, zu denen sie nur von Rolando Luna begleitet wird, dass sie dafür trotz der körperlichen Gebrechlichkeit nicht die Stütze eines Duettpartners benötigt und kein opulentes Orchester, das ihre Schwächen übertüncht.

Dass die Adios-Tour mit ihrem Abschied von der Bühne zusammenhängt, ist kein Zufall. Die alte Garde gibt es nicht mehr und auch keinen Anlass, die Musik auf die gleiche Art weiterzupflegen, die bei ihrer Entdeckung in den 90er-Jahren eine verstorbene Zeit heraufbeschwor. Es ist sicher wichtig, dass sie der Buena Vista Social Club hat wiederaufleben lassen und damit junge Musiker zur Auseinandersetzung mit dem Erbe angeregt hat. Jetzt sollen sie die Flamme auf ihre Weise in die Zukunft tragen.

Nächste Konzerte: 2.5. Ludwigsburg, 1.7. München, 2.7. Straubing, 8.7. Mainz, 10.7. Hamburg

Bisherige Rezensionen zum Buena Vista Social Club und zu Omara Portuondo auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage des Orquesta Buena Vista Social Club

(Foto: TheNoise)

Etran Finatawa, 19.4.2015, Spielboden, Dornbirn (A)

DSC_1512Singen sie eigentlich vom Wüstenwind oder von Freiheit und Frieden, singen sie von korrupten Eliten oder sind es doch romantische Liebeslieder? Es kommt nicht darauf an. Und auch nicht darauf, zu welchen Anlässen die Musiker von Etran Finatawa sonst die prächtigen Kleider tragen, mit denen sie auf der Bühne stehen.

Etran Finatawa haben ein anderes Alleinstellungsmerkmal als andere Tuareg-Bands gewählt: Im vor gut zehn Jahren gegründeten Quartett finden sich zwei Volksgruppen – die in ihrem traditionellen weiten Übergewand und Gesichtsschleier auftretenden Tuareg Alhousseini Mohammed Anivolla (Leadgitarre, Gesang) und Gouma Abdoul Jamil (Perkussion und Rhythmusgitarre) und die beiden Wodaabe, Bammo Agonla (Gesang) und Mamane Tankari (Wasserkalebasse) in auffälligen, wohl rituellen Kleidern. Auf die beiden Wodaabe gehen die mehrstimmigen, oft im ‚call and response‘-Stil gehaltenen Passagen zurück.
Im europäischen Kontext ist das Outfit nur Folklore. Doch die Musik wirkt auch dann, wenn man den traditionellen Hintergrund nicht versteht. Man muss nicht wissen, von welchem Volk die Lieder sind und ob eines von ihnen auch beim Geerewol gespielt wird, dem traditionellen „Brautschaufestival“, das Werner Herzog Ende der 1980er-Jahre in seinem Film „Die Hirten der Sonne“ vorgestellt hat. Der durchweg langsame Rhythmus, der vielen Liedern eine eigentümlich melancholische Stimmung verleiht, der oft mehrstimmige Gesang und die redundante Struktur versetzen in eine einlullende Trance, die gleichzeitig die Sinne zu schärfen scheint.
Dabei agieren Etran Finatawa im ersten, kürzeren Set abwechslungsreicher, während im zweiten Teil, der keine neuen Aspekte des Tuareg-Blues mehr bringt, die suggestive Monotonie im Vordergrund steht.

Etran Finatawa hüllen sich nicht in die Aura des Rebellentums, die Bands wie Tinariwen und Toumast pflegen, und sie scheinen bis auf die Tatsache, dass die Musiker unterschiedlichen, traditionell nomadisierenden Ethnien angehören, keine Ambitionen zu haben, den Wüstenblues um neue, ungewohnte Facetten oder Klangfarben zu bereichern. Das müssen sie auch nicht. Denn was im Konzert zu hören ist, reicht völlig, um nach zwei Stunden vergnügt nach Hause zu gehen.

Martin Stephenson und John Steel, 19. März 2015, Music Star, Norderstedt

Stephenson_Hull-2_PS5Was für ein Abend voller Anekdoten, Erzählungen, launiger Geschichten – und vor allem voller guter Musik! Martin Stephenson und sein Mitstreiter aus alten Tagen, John Steel, zaubern an einem kalten Donnerstagabend im März bereits mit dem ersten Song Rhythmus in die Beine und ein Lächeln ins Gesicht der überschaubaren Anzahl zumeist älterer Zuhörer. Anders als von Jethro Tull in den 70er-Jahren beschrieben, ist heute niemand mehr „Too Old To Rock’n’Roll“; Rockmusik heute ist Musik für ‚Best Ager‘ und noch ältere Zeitgenossen.

Martin Stephenson, seit nummehr auch schon 30 Jahren sowohl mit Band als auch solo unterwegs und zuletzt 2003 in Deutschland, gab jedoch von Beginn an nicht den Revoluzzer. Er war immer ein Storyteller, fast ein Busker, ein Folkie mit Punk und Reggae-Wurzeln. Nicht die große Geste ist sein Metier. Vielmehr skizziert Stephenson liebevoll bis boshaft menschliche Schwächen wie Heuchelei und Eitelkeit, die er in „Crocodile Cryer“, einem Klassiker der Daintees, aufs Korn nimmt, oder beschreibt die Liebe im reiferen Alter. Stephensons kongenialer Begleiter John Steel, Mitglied der ersten Daintees-Besetzung, ist nach langer Zeit wieder dabei. „Ich wurde von Ausserirdischen entführt“, begründet er seine Abwesenheit zwischen Songs wie „Wholly Humble Heart“ oder „Coleen“ und „Little Red Bottle“ vom längst zum Klassiker gewordenen 1986er-Debüt „Boat to Bolivia“. Auch „Tribute to the Late Rev. Gary Davis“ fehlt nicht. Die Setlist, von Stephenson scherzhaft als Gedächtnisstütze bezeichnet, ist ellenlang. Alte und neue Songs wie „Slow Love“ werden mit zahlreichen Anekdoten garniert, etwa jener über Peter, Paul and Mary die den Blueser Gary Davis derart verehrt hätten, dass sie ihm in den späten Sechzigern ein Haus in Queens schenkten.

Im Laufe des langen Abends, bei dem die angejahrten Zuhörer vor den Musikern zu ermatten schienen, erzählt Stephenson auch von durchzechten Nächten mit Allan Hull, der wie Stephenson aus Newcastle stammte und mit „Lindisfarne“ in den 70er-Jahren zu einigem Ruhm gekommen war, von einer Begegnung mit dem knurrigen Doc Watson, von den Arbeitsbedingungen der mexikanischen Arbeiterinnnen, welche die Fender-Gitarren zusammenbauten, vom grantigen Roadie Lone Wolfe aus „Wolvesburg“, von seiner Gitarre aus dem Jahr 1946 und nicht zuletzt auch von Buddah und Gott. Mal erzählt er mit Augenzwinkern, wenn er vom realen Vorbild für seinen „Crocodile Cryer“ erzählt, mal ernsthaft, wenn es um die Suche nach Sinn und Frieden im Leben geht.

Erst nach fast drei Stunden gehen die Lichter wieder an, und wer nicht dabei war, hat definitiv etwas verpaßt. Beschwingt treten wir den Heimweg durch die Kälte an, während „Solomon“ und „Salutation Road“ noch in unseren Ohren nachklingen.

Steve Wynn, 5.3.2015, Music Star, Norderstedt

Was könnte einen Hamburger dazu veranlassen, an einem Donnerstagabend in die graue Nachbarstadt Norderstedt zu fahren? Natürlich ein Gastspiel von Steve Wynn, Kopf und Komponist von Dream Syndicate, die in den Achtzigern ein paar superbe Alben ablieferten, ohne jemals den Massenerfolg ihrer Tour-Kollegen von REM zu erreichen. Das Music Star ist ein spärlich eingerichteter kleiner Club mit dem Charme einer Garage, bei dem Musiker und Zuhörer sich nahe kommen – man sitzt etwa einen Meter von dem Akteur auf der Bühne entfernt. Steve Wynn tritt regelmäßig hier auf, weil er  – wie etliche andere amerikanische Kollegen – die Mischung aus Club- und Wohnzimmerkonzert sehr schätzt.
Diesmal kommt er Solo, wenn auch erstmals mit elektrischen Gitarren, darunter Greeny, eine kanadische Eastwood-Gitarre, die gegen Ende des zweiten Sets zum fulminaten Einsatz kommt. Greeny heiße sie, sagt Wynn, weil er Dinge, die er besitze, gerne mit einer ‚Persönlichkeit‘ ausstatte.
Die grüngelb lackierte Greeny sieht kurios aus und klingt fantastisch, fast besser als die halbakustische Gibson, die er überwiegend spielt. Er spielt durchweg laut, was den aufgeräumten Wynn zu der Bemerkung veranlasst, dass er immer noch Folk-Sänger sei, nur eben ein ziemlich lauter. Überhaupt präsentiert sich der Mittfünfziger bestens aufgelegt und in Form. Zwischen die Songs streut er die eine oder andere Anekdote, so etwa eine Antwort darauf, welche Platte sein Leben verändert hätte: „The Days of Wine and Roses“, denn vor der Veröffentlichung dieses Dream Syndicate-Albums vor 33 (!) Jahren sei er Plattenverkäufer gewesen, danach professioneller Musiker. Oder Bemerkungen zu einer Solo-Tournee: Solo könne er jeden Abend seine Setlist nach Belieben ändern, ohne sich mit seinen Kollegen abstimmen zu müssen. So könne er alle seine Songs spielen, an die er sich erinnere – und auch so, wie er sie gerade spielen wolle. Das macht er dann auch fast zwei Stunden lang, darunter Titel wie „“Sweetness and Light““ oder „“Grace““.

Natürlich spielt er Lieder von Dream Syndicate, darunter eine tolle Version von „The Days of Wine and Roses“ und, als Hommage an Lou Reed, „Coney Island Baby“. Wynn bekennt, ein großer Lou-Reed-Fan gewesen zu sein. Er beklagt dessen Tod im letzten Jahr, aber auch, daß Kritiker ihm und seiner Band in den Achtziger-Jahren immer vorgeworfen hätten, wie Reed zu klingen. Das alles scheint aber heute nicht mehr relevant. Und so bekommen die sehr angetanen etwa 100 Zuhörer Coverversionen, Punk, Singer-Songwriter-Skizzen und reduzierte Versionen von Klassikern seiner Band. Als Wermutstropfen ist zu vermerken, dass der Klang nicht optimal ausgesteuert war, sodaß sich sein mit zwei Mikrofonen aufgenommener Gesang („Damit bin ich Ike und Tina in einer Person“) und der Klang seiner Gitarren bisweilen überlagerten.

 

Ana Moura, 7.3.2015, SAL, Schaan (FL)

Ana_Moura_DSC_1090

Dass in einem derart kleinen Land wie Liechtenstein so viele Portugiesen wohnen, ist die erste Überraschung des Abends. Geschätzt die Hälfte der Besucher im fast ausverkauften SAL wollen von Ana Moura ihre Sehnsucht nach der Heimat gestillt bekommen. Das passt – denn Sehnsucht ist eines der Grundthemen des Fados, und das andere die Saudade, eine besondere Art der Traurigkeit oder Wehmut. Ana Moura, deren letztes Album „Desfado“ an die Spitze der portugiesischen Verkaufscharts stieg und sich wochenlang in den Top Ten hielt, sollte diesem Verlangen leicht gerecht werden können.
Mit ihrem 2012 erschienenen Album wurde Ana Moura von ihrem Produzenten Larry Klein ein wenig vom Fado weggeholt – das drückt sich auch im Albumtitel „Desfado“ aus, was etwa als Nicht-Fado übersetzt werden kann –, indem er ihrer Musik eine jazzige Komponente verpasste. Dementsprechend ergänzt sie auch im Konzert das traditionelle Fado-Trio (Guitarre Portugues, klassische Gitarre und Bass) um Schlagzeug und Keyboard. Doch auch wenn der Schlagzeuger und Perkussionist Mário Costa variantenreich klöppelt und Keyboarder João Gomes sein E-Piano für ein Solo auch mal das Register für die Klangfarbe Hammondorgel zieht, vermitteln sich weder Saudade noch Originalität und Eigenständigkeit.
Der Grund dafür mag auch technischer Natur sein: Die Stimme von Ana Moura wirkt durchweg wie durch einen Kompressor geschleift. Das drückt sie zwar nach vorne, lässt sie aber auch eindimensional wirken. Und die subtilen Stellen werden so auch nicht gefühlvoller. Die Band wiederum klingt nicht deswegen druckvoll, weil sie so forciert spielt, sondern weil sie der Verstärker pusht.
Dass Ana Moura bei jedem Stück im Zweivierteltakt zum heftigen Mitklatschen einlädt und so der Show praktisch von Beginn an eine Komponente billiger Unterhaltung verleiht, macht die Sache nicht besser. Wenn Ângelo Freire an der Portugiesischen Gitarre am Ende des letzten Stückes den Refrain des mittlerweile zum Gassenhauer gewordene „Guantanamera“ einflicht, verdeutlicht er nur zu gut den Geist des Abends. Denn dass das eng mit der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung verbundene Lied aus politischem Impetus platziert worden sein soll, ist kaum zu glauben.

(Foto: TheNoise)

Tiger Lillies, 17.2.2015, Spielboden, Dornbirn (A)

Ist hier Fasching oder sind das Fans der Tiger Lillies? Am Faschingsdienstag ist es gar nicht so leicht einzuschätzen, ob die morbide Maskerade mancher Besucher bloss der Jahreszeit geschuldet ist oder ob der dafür betriebene, mitunter beträchtliche Aufwand doch der Band gewidmet ist. Die große Sause ist ohnehin programmiert. Denn die Tiger Lillies versprechen eine virile Show gepaart mit Texten, die vor Geschmacklosigkeiten und Provokationen nur so strotzen. Ihr Rezept ist – so betrachtet – simpel, ihre Umsetzung ein Genuss. Das Trio bietet ein Wechselbad aus mitreißenden und gefühlvollen Stücken und würzt seine Show mit wenigen Zutaten – darunter Theremin, Ukelele und Singende Säge – so geschickt, dass man erst im zweiten Teil des Abends merkt, dass hier mit wenigen Ingredenzien unterschiedliche Süppchen gekocht werden. Spätestens wenn man sich fragt, ob man das aktuelle Stück nicht schon einmal gehört hat, fällt es auf, dass sich die Tiger Lillies auch selbst recyceln.
Doch über weite Strecken verfängt das Konzept der Tiger Lillies. Für die theatralische Mimik des skurril geschminkten Bandleaders Martyn Jacques und seine schrille, durchdringende Falsettstimme kann man sich leicht begeistern, und seine exzellenten Mitmusiker spielen ihre Rollen mit Hingabe: Drummer Mike Pickering bewundert man dafür, mit welcher Hingabe er den Einfältigen mimt, während es Bassist Adrian Stout als besserwisserischer Beflissener leichter hat. Das Markenzeichen der Truppe, Martyn Jacques‘ exaltierter Auftritt, ist ohnehin eine Klasse für sich. Da überhört man gerne, dass er es mit dem dramatisierenden Vibrato hin und wieder ein wenig zu sehr übertreibt.
Als die Tiger Lillies ihren an das Kabarett der Weimarer Republik erinnernden Stil entwickelten, tanzte die Welt noch nicht am Abgrund. Im Nachgang des Punk waren sie damit absolut auf der Höhe der Zeit. Danach waren sie einzigartig, weil sie Projekte wie die Vertonung der Struwwelpeter-Geschichten erstklassig umsetzten. Jetzt hat sie der Zeitgeist wieder eingeholt. Die Dauergäste Wirtschaftskrise, Kriege und Bürgerkriege sowie die Angst vor Altersarmut und Arbeitslosigkeit verlangen, wie auch die bitteren Jahre der Weimarer Republik, nach einem Ventil. Die Tiger Lillies bieten es – und nicht nur das: Ihr schriller Auftritt erinnert an die Zeit, auf die auch so mancher Wirtschaftskommentator mit Blick auf die aktuelle Lage gerne verweist. Im Spielboden wurde es sicher nicht zu unrecht begeistert angenommen.

Bisherige Rezensionen zu den Tiger Lillies auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage der Tiger Lillies

James Blood Ulmer, 29.1.2015, Spielboden, Dornbirn (A)

James Blood Ulmer-6244Während Weggefährten wie Sonny Sharrock längst tot sind, verbreitet der in diesen Tagen seinen 75. Geburtstag feiernden James Blood Ulmer seine Altersweisheit auf der aktuellen Revelation-Tour. Auch wenn er dabei nichts verkündet, was man nicht ohnehin von ihm kennt und erwartet, bietet der Gitarrist immer wieder eindrückliche Momente – gewohnt sperrige, artifizielle Läufe ebenso wie berührend einfache Melodien; Letzteres allerdings nur so gelegentlich, wie er auch den einfachen Blues aufblitzen lässt, den er dann aber rasch wieder destruiert, während Calvin Jones den Walking Bass weiterzupft.
Calvin Jones (Bass) und Aubrey Dayle (Schlagzeug), der in einigen Formationen Ulmers spielt, begleiten den Altmeister in seinem zweistündigen Programm dezent und subtil. Sie liefern den anheimelnden Untergrund, auf den Ulmer seine spröden Gebilde setzt. Ulmer gesteht seinen beiden Mitstreitern das obligatorische Solo-Stück zu, das beide in gefühlvollem Kontrast zu den Kompositionen von James Blood Ulmer setzen. Gemeinsam mit den kurzen melodiösen Ausflügen Ulmers gewinnt dadurch der Abend an Spannung.

Bisherige Rezensionen zu James Blood Ulmer auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von James Blood Ulmer

(Foto: TheNoise)