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Bassekou Kouyaté „Jama ko“

Bassekou Kouyaté - Jama Ko

Bassekou Kouyaté - Jama Ko[rating=3] Wenn man das Rad erfunden hat, kann man es noch immer verbessern – Bassekou Kouyaté tüftelt erfolgreich weiter

Vor einigen Jahren hat Bassekou Kouyaté ein eigentlich simples, aber trotzdem überaus originelles Konzept umgesetzt: ein Ngoni-Ensemble, vergleichbar einem Streichquartett, mit dem er eigene und traditionelle Liedern unterschiedlicher Ethnien interpretiert und damit auf Anhieb internationale Erfolge feierte. Seine Klänge und Kompositionen selbst sind nicht experimentell. Und in einer Zeit, in der selbst auf malischen Dorffesten die Musikanten mit elektrifizierten traditionellen Instrumenten spielen, ist auch Kouyatés Einsatz von Effektgeräten nicht mehr außergewöhnlich.

So ist es kaum verwunderlich, dass die interessanteste Weiterentwicklung von Bassekou Kouyaté nicht im musikalischen Bereich liegt. Hier steht er zwar nicht still, variiert aber doch ’nur‘ das bestehende Konzept. Auch die wiederholte Zusammenarbeit mit Taj Mahal, so nett das Ergebnis auch sein mag, führt nur einmal mehr zusammen, was schon öfters zusammengeführt wurde – den Blues und die afrikanische Musik, die von vielen als dessen Ursprung betrachtet wird.

Bemerkenswerter ist daher der persönliche Wandel, den die Ereignisse in Mali hervorgerufen haben. Sie hätten ihn politisiert, berichtet Kouyaté in einem Interview. Das Ergebnis ist hörbar: Er verurteilt den Putsch und hat als Aufruf  zu Frieden und Toleranz auf zur „Jama ko“ geladen, zur ‚großen Versammlung‘. Das Titelstück hat er mit Musikern aller Ethnien und Religionen eingespielt.

Das Album ist von treibenden Stücken geprägt. Kouyaté selbst zeigt sich wieder ungemein virtuos, und neben seiner Frau Amy Sacko singen Zoumana Tereta, Khaira Arby und Kassé Mady Diabaté. Seine Band – mittlerweile sind seine beiden Söhne Mamadou und Moustafa dabei – wird für fast jedes Stück um Gastmusiker erweitert, vor allem um einheimische Balafon- und Ngoni-Virtuosen, aber auch um die kanadischen Folkmusiker Andrew und Brad Barr.

„Jama ko“ zeigt, dass man das Rad nicht immer neu erfinden muss, aber in jeder Erfindung Entwicklungspotenzial steckt – Bassekou Kouyaté tüftelt erfolgreich weiter.

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(Foto: Outhere)

Rosalie und Wanda „Meister Hora“

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Rosalie und Wanda [rating=3] Lieder, die den Tag leichter machen

Mit seinem Roman „Momo“ hat Michael Ende einen Roman geschrieben, der – ähnlich wie Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ – trotz seiner einfachen Sprache einem gewissen Tiefgang nicht entbehrt. Es ist also keineswegs infantil, wenn Rosalie Eberle mit dem Titelstück dem Hüter der Zeit in Michael Endes Roman die Referenz erweist. Es passt zudem, weil auch die Musik von Rosalie Eberle einfach ist. Und es ist nicht falsch, obwohl ihre Texte keine poetisierten Erläuterungen philosophischer Standpunkte sind. Dafür sind sie durchweg mit dem Impetus geschrieben, mehr als unterhaltend sein zu wollen.

Ihre Betrachtung der Welt wirkt arglos und staunend, und natürlich schreibt Rosalie Eberle ausgiebig über die Liebe, die ebenso selbstverständlich schön und schwer ist. Sie beschreibt ihre Empfindungen in einfachen Worten, findet jedoch ganz eigene, leicht verschrobene Ideen und Formulierungen. So will sie mit ihrem Liebsten einen Apfelbaum pflanzen »am schönsten Ort, an dem er Platz hat zum Tanzen«, denn »Jahr für Jahr stellt er die Liebe dar« singt sie und beschreibt damit gleichzeitig, dass eine Beziehung nicht nur die Frühlingsblüte, sondern auch den kargen Winter kennt.

Die folkigen Lieder werden passend interpretiert, wobei Rosalie Eberle und ihre Begleiter Manfred Mildenberger (Schlagzeug, Bass, Keyboards) und Sascha Biebergeil (Gitarre) gängige Muster bevorzugen. Dann setzt in „Apfelbaum“ die Slide-Gitarre genau an der Stelle ein, an der man sie erwartet.

Die luftigen, mit anheimelnder Stimme gesungenen Lieder von Rosalie Eberle sind Ohrwürmer – aber nicht von der nervigen Art, die man den ganzen Tag verzweifelt abzuschütteln versucht. Sie sind, auch bei der leichten Schwermut, der sie mitunter durchzieht, dazu angetan, den Tag leichter zu machen.

Offizielle Homepage von Rosalie und Wanda

(Foto: Ahoi)

Charles Bradley „Victim Of Love“

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Charles Bradley [rating=4] leidenschaftlicher Retro-Soul

Seine Geschichte ist anrührend, und wer nicht glaubt, dass nur Leid und Schmerz einen Sänger zum Soulman formen, findet in der Lebensgeschichte von Charles Bradley einen Grund zu konvertieren. Der in armen Verhältnissen aufgewachsene Mittsechziger hat sein Debütalbum vor drei Jahren aufgenommen. Jetzt legt er nach. Nicht mehr ganz so düster und verzweifelt, sondern mit einem Hoffnungsschimmer – in den er aber immer noch eine gute Portion Sehnsucht und Schmerz legt. Die langen Jahre des Schmerzes wischt auch die große Zuneigung nicht weg, die ihm seit dem Erscheinen Seines Debütalbums vor drei Jahren entgegengebracht wird.

Ausdrucksstark heult der frühere James-Brown-Imitator wie weiland sein Vorbild. Die Musik ist die Reinkarnation des Soul der 60er-/70er-Jahre und verströmt noch immer die Authentizität von damals. Hinter der ausdrucksstarken Stimme des immer wieder wie James Brown kreischenden Charles Bradley werden die Songs durchweg mit wohlkalkulierten Bläsersätzen der Menahan Street Band und wohlklingenden Uh-Uh-Oh-Oh-Einwürfe des Chors akzentuiert. Die Hammond-Orgel – mal dramatisierend, dann wieder mit hüpfender Leichtigkeit – fehlt ebenso wenig die mit viel Hall unterlegte Gitarre und kleine Überraschungen wie die folkige Gitarre im Titelstück „Victim Of Love“.

Aber Charles Bradley singt nicht nur von der Liebe, die ihn stärkt oder leiden lässt, sondern kommentiert – natürlich aus der Sicht des Underdogs – die Stimmung der Zeit. Und auch wenn er die Musik von gestern wieder aufleben lässt: Seine Botschaften sind für das Hier und Jetzt.

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(Foto: Dunham Records)

Kassette „Far“

Kassette [rating=2] Von schön wuchtig bis überwiegend kunstgewerblich

»Who needs Boys, when Girls got Guitars«, fragten einst die Voodoo Queens und droschen auf selbige ein – egal, ob Jungs oder Klampfen. Das ist eine Weile her, aber das Bedürfnis junger Frauen, Stromgitarren zu spielen, hat sich damit selbstverständlich nicht erledigt. Gut so!

Laure Betris, Mise en Scene bei Kassette, legt ihr drittes Album „Far“ vor. Was hören wir dort? Laute, sehr laute Gitarren und etwas eindimensionalen Gesang, der bei weitem nicht an die stimmlichen Möglichkeiten ihrer Landsfrau Sarah Palin heranreicht. Das macht jedoch nichts – oder zumindest nicht allzu viel. Man kann bei Laura Betris Gesang durchaus an Laurie Anderson denken, aber man könnte auch Mazzy Star heranziehen, wobei deren Sängerin weitaus statischer war. Die Klangassoziationen sind noch vielfältiger und reichen von den Stooges bis hin zur neuesten, handelsüblichen Indie-Gitarrenband.
„Lost Hills“, der Eingangssong, spielt ganz hübsch mit Laut- und Leise-Effekten und das folgende „Dream Again“ hat einen halligen, verwehten Sound, der vor allem dann gut mit dem Gesang harmoniert, wenn die Gitarrenwand die Stimme überlagert. Laut hören! Ebenso „Questioning“. Dann kommt der ‚poetische‘ Zug im Wesen der jungen Künstlerin zum Vorschein, was leicht ambitioniert – und etwa im Titelsong „Far“ – kunstgewerblich wirkt, und der Spannungsbogen sackt ab.

Gegen die Wiederholung der Ideen helfen dann die aufgedrehten Verstärker leider nicht. Immerhin: Auch die großen, britischen Vorbilder kochen nur mit Wasser. Und der direkte Sound gefällt. Er klingt, als ob Kassette die Songs teilweise live im Studio eingespielt hätten.

Auch wenn es zum zum großen, unverwechselbaren Wurf noch fehlt: ‚Sound and Vision‘ sind durchaus erkennbar. Live fegen Laure Betris und Kassette bestimmt das Bierglas vom Tisch, und für die CD gibt’s die Skip-Taste.

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(Foto: Irascible)

Karl Bartos „Off The Records“

Karl Bartos - Of The Record

Karl Bartos [rating=3] Karl Bartos spinnt weiter, was er bei Kraftwerk begann

Es könnte ein Lebenszeichen von Kraftwerk sein. Doch weil diese nur noch ihr musikalisches Erwerbe verwalten und vom Pop- in den Kunst-Himmel streben, bleibt es dem einstigen Mitmusiker Karl Bartos überlassen, das Kraftwerk-Konzept weiterzuspinnen. Bartos, der immer im Hintergrund der Gründer Ralph Hütter und Florian Schneider stand, ist Co-Autor wichtiger Kraftwerk-Stücke wie „Das Modell“, „Computerliebe“, „Musique Non-Stop“ und „Tour de France“.

Bartos‘ drittes Solo-Album, „Off The Records“ schmeckt stark nach Erinnerung. Das verwundert nicht, soll es doch auf Ideen und Skizzen aus seiner 15-jährigen Kraftwerk-Zeit beruhen (1975-1990).

Bartos zeigt nun also, was er damals noch so alles in der Hinterhand hatte. Er bringt die bekannten, einfachen und süßlichen Melodien, was etwa in „Nachtfahrt“ an die „Model“-Zeit erinnert. Allerdings klingt der Text dann doch mehr nach Joachim Witt. Er zelebriert den Sprechgesang und ausgiebig Vocoder-Klänge, und nicht zuletzt erweist er mit „Musica Ex Machina“ seiner ehemaligen Band – und damit auch sich selbst – die Referenz als Techno-Vorläufer. Doch auch wenn jede Komposition die Ausstrahlung von Kraftwerk vermittelt – an heranzureichen gelingt Bartos mit keiner einzigen.

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(Foto: Bureau B)

Samba Touré „Albala“

Samba Touré [rating=4] Desert Blues at its best

Er ist ein musikalischer Ziehsohn seines Namensvetters Ali Farka Touré und ein würdiger Verwalter von dessen Erbe. Die Musik von Samba Touré verströmt große Gelassenheit, ist jedoch sehr bestimmt und fern von jeglicher Afropop-Fröhlichkeit.

Der in der Region von Timbuktu geborene Samba Touré ging wegen der besseren Jobperspektiven schon als junger Mann nach Bamako. Dort lernte er das Gitarrespiel, gründete Bands und begeisterte sich für den Desert Blues von Ali Farka Touré. Der holte seinen Adepten 1997 in seine Tour-Band, was ihn offensichtlich nachhaltig prägte.

Auch Samba Tourés Gitarrenspiel ist von der Art inspiriert, in der traditionelle Instrumente wie die N’Goni gespielt werden. Das ist nach wie vor – und gerade im Zusammenspiel mit der N’goni, die auf allen Stücken dieses Albums zu hören ist – überaus reizvoll. Immer wieder gibt es gesprochene Passagen und den für malische Musik typischen Chorgesang. Bei Samba Touré sind es jedoch nicht die gewohnten, hellen Frauenstimmen, sondern ein dunklerer Männerchor, der hier den Ton angibt und sich letztlich vom traditionellen Vokaleinsatz deutlich abhebt. Touré hat alle Stimmen selbst eingesungen sowie die meisten Gitarren und teilweise die Percussions eingespielt. Für ein wenig Underground-Grummeln sorgt übrigens Hugo Race, schon früh ausgeschiedenes Gründungsmitglied von Nick Caves Bad Seeds und aktuell Mitglied von Dirtmusic, dessen anderes Mitglied, Chris Eckman von den Walkabouts, das Album produziert hat.

Samba Touré ist ein politischer Liedermacher und kommentiert die aktuelle, prekäre Situation in Mali. Damit steht er – soweit man das aus der englischen Übersetzung herauslesen kann – durchaus in der Tradition afrikanischer Musik. Allerdings appelliert er kaum direkt an seine Mitbürger, sondern formuliert seine Anliegen meist indirekt. (Ausnahmen wie „Al Barka“, in dem er zum sorgsamen Umgang mit Wasser auffordert, bestätigen die Regel.) Der düstere Ton, der manche seiner aktuellen Texte kennzeichnet, spiegelt sich in der Musik wider, die nicht von ausgelassener, sondern vielmehr von Sorgen umwölkter Ruhe geprägt ist. Es werden nur wenige Instrumente eingesetzt, diese jedoch umso bewusster. Die einseitige Fiedel Sokou beispielsweise, mit der Zoumana Tereta in drei Stücken für eigenwillige Akzente sorgt, findet man in kaum einer afrikanischen Pop-Produktion.

Dass die Musik von Samba Touré gelegentlich wie ein Nachhall von Ali Farka Touré klingt, ist weder überraschend noch zu kritisieren. Samba Touré trägt das Erbe des Grammy-Gewinners nämlich nicht weiter, indem er den 2010 verstorbenen Gitarristen plagiiert, sondern indem er sie mit eigenen Ideen und aktuellen Bezügen weiterführt.

Offizielle Homepage von Samba Touré

(Foto: Glitterbeat)

JJ & Palin „Meanwhile In Kolin“

JJ & Palin “Meanwhile In Kolin”

JJ & Palin “Meanwhile In Kolin” [rating=3] Breites Spektrum – vom gefühlvollen Sehnen bis zum energischen Vollzug.

»Was gibt es in der Schweiz?«, fragte rhetorisch einst Sir Alfred Hitchcock und antwortete gleich selbst: »Berge und Schokolade«. Deutsche mit Namen Pannen-Peer denken eher an teutonische Steuersünder und Strafaktionen zu Pferde, und die Liebhaber der Populärmusik erinnern sich vielleicht noch an Yello.

»Schön und gut«, denken die Schweizer selbst, denn sie haben schließlich eine lebendige Musikszene. Schade nur, dass diese außerhalb der Landesgrenzen eher weniger wahrgenommen wird. Dabei haben oder hatten sie, denn jüngsten Verlautbarungen der Band zufolge drehte sich das Personalkarussell bereits, mit JJ & Palin sogar eine ‚Schweizer-Indie-Supergroup‘, was aber weniger schlimm ist, als es sich anhört.

Sarah Palin ist eine Sängerin, die auf „Meanwhile in Kolin“ ein breites Spektrum stimmlicher Möglichkeiten abdeckt: vom gefühlvollen Sehnen bis zum energischen Vollzug. Das erinnert mitsamt der Musik bisweilen an Sophie Hunger, in anderen Momenten wieder an gar nichts, und das ist doch auch schon mal was. Chanson ist drin, Akustik-Pop, Jazz-Anklänge und Elektronisches, das unauffällig bleibt. Hier eine akustische Gitarre, dort die schon erwähnte Sehnsucht, ein zurückgenommenes Schlagzeug, Anleihen bei der ersten Portishead-CD und assoziative Wortspiele. Kein Frühlingssound, eher etwas für leicht neblige Wintertage oder die Abenddämmerung. Eine Kerze und die Stehlampe darf man dabei schon anmachen. Denn Frau Palin ist nicht wirklich das verhuschte Indie-Girl, als das sie sich in ihren Videos zeigt. Versponnener Sound mit – ja, doch – Humorsplittern und trötenden Posaunen. Nicht nur ernsthaft, sondern auch unterhaltsam.

Offizielle Homepage von JJ & Palin

(Foto: Irascible)

Otto Klemperer „20th Century Music: Hindemith · Klemperer · Stravinsky · Weill“

Otto Klemperer "20th Century Music: Hindemith · Klemperer · Stravinsky · Weill"

Otto Klemperer [rating=5] Moderne Klassik – Otto Klemperers Vermächtnis des 20. Jahrhunderts.

Kaum ein anderer Dirigent des 20. Jahrhunderts erweist sich rückblickend als so zeitlos wie Otto Klemperer (1885-1973). Das mag daran liegen, dass Klemperers Art der Interpretation von Musik immer etwas Eigenes hatte: Klemperer dirigierte nicht alles, aber das was er dirigierte, dirigierte er mit Seele, er verinnerlichte die Musik geradezu, machte sie zu ’seiner‘ Musik. Und er schaffte es auf geradezu magische Weise, das Orchester zu seinen sehr persönlichen Deutungen zu führen: Jede Klemperer-Aufnahme klingt erst einmal nach ihm selbst und nicht nach dem Orchester, dem er vorstand. Das Faszinierende dabei ist: Klemperer verdrehte die Komponisten nicht, er beugte sie nicht, dennoch sind seine Interpretationen unverwechselbar. Seine kraftvoll-schnörkelosen Bach-, Mozart- und Beethoven-Interpretationen mögen im Lichte der heute üblichen historischen Aufführungspraxis nicht bestehen können, sie sind dennoch kohärent, authentisch und verfehlen ihre Wirkung auch heute nicht. Seine Mahler-Einspielungen gelten auch heute noch vielen als unübertroffene diskografische Highlights des letzten Jahrhunderts.

Klemperer hatte nicht nur eine besondere Affinität zum klassisch-romantischen Repertoire, er war auch einer der ersten Anwälte der Moderne, vielleicht weil er selbst (wenn auch recht glücklos) komponierte, vielleicht weil er als junger Dirigent viele Komponisten noch persönlich kennenlernen konnte. Die vorliegende 4-CD-Box fasst Klemperers wichtigsten Aufnahmen mit Repertoire des 20. Jahrhunderts zusammen: Stravinskys „Sinfonie in 3 Sätzen“ und die „Pulcinella-Suite“, Hindemiths „Nobilissima-visione-Suite“, Weills „Kleine Dreigroschenmusik“ sowie die instrumentalen Passagen aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ (Ouvertüre & Traumpantomine). Darüber hinaus findet man auf der Box eine ganze CD mit seinen eigenen Werken (unter anderem seine 2. Sinfonie und sein 7. Streichquartett) und eine Bonus-CD mit einer englischsprachigen Audiodokumentation über Klemperers Leben und Wirken.

Allein schon wegen der Audiodokumentation lohnt sich die äußerst preisgünstige Box für jeden Klemperer-Fan; musikalisch überzeugen vor allem sein scharf konturierter Weill und der kraftvolle Stravinsky. Darüber hinaus war er mit Sicherheit der kompetenteste Interpret seiner eigenen Werke: Diese „Klemperer-dirigiert-Klemperer“-Aufnahmen waren lange Zeit nicht mehr erhältlich und sollten nun das eine oder andere Sammlerherz (wieder) erfreuen können.

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otto-klemperer.de Offizielle Website zur „Klemperer Edition“ bei EMI-Classics

Otto Klemperer auf de.wikipedia.org

(Bild: EMI Classics)

Attwenger „Clubs“

Attwenger - Clubs[rating=3] Höllenritt im Attwenger-Autodrom

Seit mehr als zwanzig Jahren zieht das Duo Attwenger durch die Clubs – vor allem in den deutschsprachigen Ländern, aber auch in den USA oder Asien. Im Gepäck haben sie kaum mehr als Schlagzeug und Steirische Harmonika, aber auch originelle Weltbetrachtung und dadaistischen Witz. Ihre Kompositionen sind überwiegend von suggestiver minimalistischer Redundanz, die eigentlich Zeit braucht, um zu wirken. Dass sie jedoch auch zersplittert nichts von ihrer Kraft einbüßen, zeigen die Schnipsel, die Markus Binder und Hans-Peter Falkner auf „Clubs“ zu einem knallbunten, sich fortwährend drehenden Kaleidoskop arrangieren. Wie im Cut-up-Roman reihen sie Songfragmente, Ansagen und Statements in harten Schnitten aneinander. Ein Album wie eine Boxautofahrt – kaum eine ruhige Sekunde, nicht vorhersehbar und durchgängig spaßig.

„Clubs“ versammelt Live-Mitschnitte – zum Teil mit Gästen wie den Gitarristen Harri Stojka und Fred Frith, Wolfgang Schlögl von den Sofa Surfers und, in einem allerdings schwachen Beitrag, Sigi Maron –, unveröffentlichte Stücke und Skurriles wie den Live-Mitschnitt einer TV-Übertragung, in der ein Fußballer namens Attwenger ein Tor schießt. Auch das passt, weil es wie eine unfreiwillige Parodie wirkt.
Dieser wilde Mix wird von einer DVD mit zwei selbstgebastelten, während zweier Tourneen mit dem Mobiltelefon aufgenommenen Roadmovies begleitet, die man vor dreißig Jahren mit der Etikette ‚punkig dillettantig‘ erfolgreich vermarktet hätte. Alles in allem: Ein vergnüglicher Höllenritt im Attwenger-Autodrom.

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(Foto: Trikont)

Stiller Has „Böses Alter“

Stiller_Has_Böses_Alter[rating=3] Immer wieder vergnüglich: amüsante und kritische Geschichten zu Rhythm and Blues

Er wird von seinem Schatten angesprochen, fährt im falschen Zug in den Norden statt in den Süden und wundert sich, dass er durch noch nie gesehene Bahnhöfe kommt. Er sehnt sich nach seiner ersten Liebe und weil ihm als aus der Zeit gefallenen die Welt mit Facebook neuen Medien die kalte Schulter zeigt, gibt er den widerspenstigen Alten. Einmal mehr zeigt Endo Anaconda, dass er aus und praktisch mit nichts Geschichten erzählen kann. Dann drückt er seine Verzweiflung über die Schlaflosigkeit aus, indem er die Schafe nicht zählt, sondern schlachtet. Oder er nimmt sich die Märchenhelden vor, die genau das Gegenteil von dem machen, was in Grimms Märchensammlung steht: Hans im Glück hat Depressionen, der Goldesel scheißt Defizite. Diese simple Umkehrung, in der auch der Papst (ein Kommunist), Romeo (schwul) und Julia, Winnetou, Bambi und der Kleine Prinz (er hat seine Doktorarbeit gefälscht) Platz haben, ist nicht nur nett, sondern auch Gesellschaftskritik. Wenn Endo Anaconda auf diesem Weg fragt, warum wir die Märchen der Politiker denn noch glauben, ist er ganz der Alte.

Endo Anacondas bekannte Mischung aus persönlich wirkenden und gesellschaftskritischen Liedern unterlegt die Begleitband mit dem gewohnten Rhythm and Blues. Schifer Schafer prägt die Musik mit seinem so akzentuiertem wie entspannten Gitarrenspiel, der Rest der Truppe wird nur gebraucht, um das Klangbild voller zu machen. Auch hier alles beim Alten – längst nicht mehr innovativ, aber immer wieder vergnüglich.

Stiller Has ist eine der wenigen Schweizer Mundartgruppen, die zumindest für ein Insider-Publikum, den Sprung über die Sprachgrenze geschafft haben. Ihren deutschen Anhängern erleichtern sie das Verständnis mit Übersetzungen der im Begleitheft vollständig abgedruckten Texte.

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Offizielle Homepage von Stiller Has

(Foto: Soundservice)