Kategorie: Neu erschienen

Samba Touré „Wande“

[rating=4] Mali-Blues, zurückhaltend und fein

Die Lage der Welt macht nicht wirklich froh, und die jahrzehntelang immer wieder fragile Situation in Mali hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter verschlechtert – ohne Aussicht auf Veränderung. Daher erstaunt es nicht, dass der malische Gitarrist und Songwriter mit „Wande“ ein äußerst melancholisches Album eingespielt hat. Selbst das seiner Frau gewidmete Liebeslied, mit dem das Album betitelt ist, wirkt schwermütig.

Trotzdem wirken die neuen Lieder von Samba Touré nicht durchweg so resigniert wie „Mana Yero Koy“, in dem er „die ganze Welt im Chaos“ sieht und beklagt, dass es „keinen sicheren Platz mehr gibt“. Er ergibt sich der Misere nicht apathisch, sondern regt an, erst einmal die persönliche Einstellung zu ändern und zusammenzustehen. Und wie Boubacar Traoré, der malische Chuck Berry, bereits in den 60er-Jahren forderte, ruft auch der um Jahrzehnte jüngere Musiker seine Landsleute dazu auf, das Glück nicht in der Emigration zu suchen, sondern die Heimat mitzugestalten.

Musikalisch steht Samba Touré in der besinnlichen Tradition des Mali-Blues, seine Lieder singt er alle in Songhai. Das extrem zurückhaltende „Wande“ erinnert Anfangs an die melancholischen Stücke von Boubacar Traoré, um bald und mit einer psychedelischen Note versehen in die Richtung seines Namensvetters Ali Farka Touré zu driften. Die Basis von „Yerfara“ („We are tired“) ist ein Lick, das den frühen Stones gut gestanden hätte, und bei „Mana Yero Koy“ („Where to go?“) zeigt der Gitarrist auf angenehme Weise, dass ihm auch tanzbare Musik nicht fremd ist.
Alle Stücke sind als harmonisches Ganzes arrangiert. Der Gitarrist bleibt prägnant, drängt sich jedoch nie in den Vordergrund, sondern fügt sich in sein stilvoll-gelassen agierendes Ensemble mit traditionellen Instrumenten wie Kalebasse, Ngoni und der einseitigen Geige Sokou ein.

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(Foto: Glitterbeat)

Jimi Tenor „Order Of Nothingness“

[rating=4] Afrobeat und Bee Gees auf Beta-Blocker – sonnig und ernsthaft verspielt

Der Auftakt heißt nicht ohne Grund „Mysterya“. Denn man fragt sich, warum Jimi Tenor seine Hörer mit einer Disco-Nummer im Stil deutscher Bierzelt-Bee-Gees-Imitatoren vergraulen will. Verglichen mit dem weiteren Programm wirkt das Stück wie ein Irrtum. Groove und Sprechgesang sind wie entschleunigter Afrobeat, und wenn Jimi Tenor die Flöte ansetzt, erinnert er an Yusuf Lateef auf der Spurensuche nach seinen verschütteten afrikanischen Wurzeln.
Dass dies so zwanglos und selbstverständlich klingt, liegt sicherlich nicht nur an seiner eigenen Erfahrung. Jimi Tenor hat vor zehn Jahren ein Album mit Tony Allen eingespielt, dem Erfinder des Afrobeat. Mit Ekow Alabi Savage steht ihm ein Schlagzeuger und Perkussionist aus Ghana zur Seite, und mit dem Schlagzeuger Max Weissenfeldt ein Partner, der mit Embryo ethnische Musikkonzepte erkundet und in Ghana Polyrhythmik gelernt hat. Mit der Gruppe Polyversal Souls fusioniert er afrikanische, karibische und europäische Musiken.
Die drei hatten offenbar Vergnügen und verbreiten großen, aber durchweg gediegenen Spaß. Obwohl ihrer wilden Mischung aus unterschiedlichsten Stilen und Einflüssen überaus kindliche Spielfreude zugrunde zu liegen scheint: In die Niederungen der Schenkelklopfer begeben sie sich nicht. Auch wenn beispielsweise in „Chupa Chups“ wieder der an Bierzelt-Bee-Gees erinnernde Falsettgesang kommt und ein Refrain, den auch Frank Farian für Milli Vanilli hätte schreiben können: Mit Jimi Tenors Beiwerk – dem Saxophon, den mit analoger Elektronik aufgenommenen Einsprengseln – wird auch das eine coole Nummer, die sich gut einfügt. Vielleicht hätte Jimi Tenor einfach „Mysterya“ nicht an den Anfang stellen sollen. Das jedoch ist – wenn überhaupt – nicht mehr als ein lässliches Vergehen.

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(Foto: Philophon)

Cristina Branco „Branco“

[rating=3] Universal schön, jedoch wie Kino ohne Leinwand

Weint sie einer verflossenen Liebe nach? Trauert sie um Flüchtlinge, die jedes Jahr zu Hunderten im Meer ertrinken? Oder beklagt sie den Tod ihres Hamsters? Künden die luftigeren Töne der Guitarra Portugues, die in „Namora Comigo“ auf die von Cristina Branco mit kummervoller Solostimme gesungene erste Strophe folgen, schon vom Grund des Umschwungs oder sind sie nur der Ausdruck erster Hoffnung, die sich rasch zerschlägt?
Die Texte sind Cristina Branco so wichtig wie die Musik. Deshalb hat sie junge Songwriter gebeten, welche für sie zu schreiben – eine Information, die kaum ein Rezensent seinen Lesern vorenthält. Doch was diese neue Künstlergeneration bewegt und wie sie mit Worten umgeht, erfahren wir nicht. Denn die Texte gibt es nur in Portugiesisch, an der Übersetzung wurde gespart. Selbst signifikante Textauszüge fehlen. Egal ob aus Nachlässigkeit oder weil ein Gros der Hörer wahrscheinlich gar nicht in die Tiefe gehen mag – es wirkt wie ein Zeichen der Geringschätzung anderssprachiger Hörer und zeigt den Unwillen, dem hohen Anspruch der Künstlerin zu entsprechen.

Auch wenn man sich für Cristina Brancos Stimme, die geschmackvollen Arrangements und die versierte Begleitung auch ohne Textverständnis begeistern kann, wird das ihrem Gesang und ihren Musikern nicht gerecht.
Ursprünglich vom Fado kommend, hat die Portugiesin den portugiesischen Musikstil mit anderen Einflüssen gekreuzt und sich so weiterentwickelt. Gelandet ist sie letztlich bei einer Besetzung, in der das Klavier eine wesentliche Rolle spielt. Der verhalten schmissige und melancholische Duktus ihrer Lieder wie auch der gewitzte Klang der portugiesischen Gitarre wirken wie ein angenehmer Nachhall des Fado. Dadurch und durch die Sprache sind ihre universal klingenden Lieder in Portugal geerdet. Ob deren lyrische Kraft auch der Musik entspricht (und umgekehrt) bleibt leider im Dunklen. Cristina Brancos emotional vorgetragene Lieder zu hören, ohne die Texte nachvollziehen zu können, ist wie Kino ohne Leinwand.

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(Foto: Qrious)

Dobet Gnahoré „Miziki“

[rating=4] tanzbar, luftig, elektronisch – und nachdenklich auch

Ihr Auftreten im Domina-Dress führt in die Irre. Denn nach dem poppigen, aber keineswegs herrischem Start schlägt die seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich lebende Dobet Gnahoré aus Côte d’Ivoire durchaus auch sanftere Töne an. Dafür steht das Energiebündel, das sie auf der Bühne darstellt, bislang nicht. Ebenso wenig für die elektronischen Klänge, die das Album prägen. Beides lässt man sich nur zu gerne gefallen. Denn Produzent Nicolas Repac sorgt für die angenehme Verschmelzung von Elektronik mit akustischen Instrumenten wie Gitarre und Balafon.
Mit ihrem neuen Album „Miziki“ (in ihrer Muttersprache Bété heißt das schlichtweg Musik) zeigt Dobet Gnahoré, dass sie der Heimat verbunden, aber schon lang genug in Europa ist, um musikalische Einflüsse beider Regionen überzeugend zu verbinden.
Die neuen Stücke sind mal tanzbar („Djoli“, „Miziki“), mal von angenehm nervöser Fiebrigkeit („Education“). Sie sind aber auch äußerst besinnlich („Afrika“, „Love“) oder schlichtweg schön („Détenon“, „Le Monde“), mit sanften Melodien und eingängigem Chorgesang. Aber es sind nicht nur die unterschiedlichen Charaktere der Songs, die das Album abwechslungsreich machen. So mancher Song bietet eine eigene Volte, die Arrangements sind durchweg äußerst geschmackvoll und gesanglich zeigt sich Dobet Gnahoré gleichermaßen einfühlsam und kraftvoll.

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(Foto: Indigo)

Reverend Beat-Man „Blues Trash“

[rating=2] Trash, leicht gereinigt

Es ist eine kuriose Mischung: Reverend Beat-Man ist ausgewiesener Meister des Trash, seine Mitstreiter dagegen höheren künstlerischen Ansprüchen verpflichtet/mit akademischen Weihen ausgestattet: Julian Sartorius spielte als einer der angesagtesten Jungtrommler von Pop bis Jazz mit Sophie Hunger, Co Streiff und Bruno Spoerri. Der hier Gitarre spielende Akkordeonist Mario Batkovic hat schon vor seinem Musikstudium Hörbücher für Kinder vertont, mit Geoff Barrow von Portishead gespielt und auch Filmmusik geschrieben, von eigenen Projekten ganz abgesehen. Auch Resli Burri, knapp zehn Jahre älter als Reverend Beat-Man, hat als ehemaliges Mitglied von Patent Ochsner und Aufträgen für Film und Theater seine Meriten in der anerkannten, anspruchsvollen Pop-Unterhaltung und im Kunstbereich.

Wie passt das zusammen? Schielt Reverend Beat-Man auf einen Scheck aus der Kunstwelt? Wollten die anderen einfach einmal die Sau rauslassen? Oder hatten sie bloß Zeit und haben das auf der Straße liegende Kleingeld mitgenommen?
Um wenigstens die erste Frage zu beantworten: Es passt ausgezeichnet zusammen. Die Kollegen spielen den Bildungsvorsprung nicht wirklich aus, daher bleibt musikalisch letztlich alles beim Alten. Reverend Beat-Man knurrt wie immer zu Liedern mit Schauerroman-Stimmung, etwa bei „Lass uns Liebe machen“, das einem Dead-Brothers-Stück zum Verwechseln ähnlich ist. „Love is Simply A Dream“ und „Then We All Gonna Die“ wiederum würden gut zu einem Western-Noir-Roman im Stil eines Bruce Holbert passen, dessen Sheriff Russel Strawl in „Einsame Tiere“ genauso Outcast ist wie die von ihm Gejagten. Und zwischendurch freut man sich, die angenehme Stimme von Nicole Izobel Garcia zu hören, seiner Partnerin bei Live-Auftritten – eine seltene und daher umso angenehmere Abwechslung von Düsternis und Missbehagen, die Reverend Beat-Man gekonnt verbreitet.

Reverend Beat-Man bleibt also Reverend Beat-Man und liefert wie gewohnt Shabby-Schick. Auch wenn seine Mitstreiter diesen Stil zumindest an den noch nicht ganz verrosteten Stellen etwas blankpoliert haben, ändert das nicht wirklich viel. Wobei das Ergebnis immer noch besser ist als die gleichnamigen Schrottmöbel – mit beidem möchte man sich nicht dauerhaft ausstatten.

Facebook-Seite von Reverend Beat-Man

(Foto: Voodoo Rhythm)

Nigel Kennedy „Kennedy Meets Gershwin“

[rating=4] Gershwins Klassiker – von abgründig bis ungemein swingend

George Gershwin war ein vielseitiger Komponist. Er schrieb Unterhaltungsmusik, klassische Konzerte und mixte afroamerikanische Einflüsse mit zeitgenössischer Klassik. Das Great American Songbook hat er mit unvergesslichen Melodien bereichert, die von Ella Fitzgerald und Frank Sinatra bis zu Janis Joplin und Miles Davis interpretiert wurden. Lieder wie die Arie „Summertime“ aus der Oper „Porgy and Bess“ zählen wohl zu den bekanntesten der Musikgeschichte.

George Gershwin war ein Grenzüberschreiter, dessen Werke schon früh andere Künstler (Thelonious Monk, Lester Young) dazu animierten, recht frei mit ihnen umzugehen.
Jetzt hat Nigel Kennedy ein neues Kapitel aufgeschlagen. Ehrfurcht ist von ihm nicht zu erwarten. Das zeigt er schon beim Auftakt „Rhapsody in Blue“, dem er einfach ein kräftiges Weinrot zusetzt und das er in „Rhapsody in Claret & Blue“ umbenennt. Und nicht nur das: Er reduziert die 16-minütige Rhapsodie auf knapp drei spannende Minuten. Aus dem Wiegenlied „Summertime“ wiederum entfernt er alles Liebliche und stellt die harsche Lebenswelt in den Vordergrund, in der es angesiedelt ist.
Das alles ist nicht despektierlich, Kennedys Vorlage ist deutlich erkennbar – er lässt nur so manchen ablenkenden Flitter weg und verpasst Gershwins Kompositionen eine andere Frisur. Diese erinnert immer noch an den Irokesen, den Kennedy früher trug, auch wenn der Geiger inzwischen bereits in seinen Sechzigern ist.

Nigel Kennedy malt nicht nur düstere Bilder, sondern sieht auch die lockeren Seiten des Lebens. Wenn er die Geige gipsy-jazzig swingen lässt, erinnert das auf äußerst angenehme Weise an seinen einstigen Lehrer Stéphane Grapelli. Immer wieder spielt Kennedy so lässig beschwingt auf, als ob er seinen eigenen ‚Relaxed Club de France‘ gegründet hätte.
Auch wenn er wie bei „Fantasy“ und „They Can’t Take That Away From Me“ die Geige weglegt und als Solo-Pianist in die Tasten greift, kehrt er den Jazzer hervor – und macht auch im Sitzen eine recht gute Figur.
Und nicht zuletzt sind die beiden eigenen Stücke „Time“ und „Fantasy“, die er den Klassikern zur Seite stellt, erhabene Referenzen an George Gershwin.

Nigel Kennedy tummelt sich seit vielen Jahren mit wechselndem Erfolg in den unterschiedlichsten Genres. Mit „Kennedy Meets Gershwin“ beweist er wieder einmal, dass er seinen Platz im Musik-Olymp noch immer verdient.

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(Foto: Qrious)

Yonatan Gat „Universalists“

[rating=3] Anmutige Destruktion

Man kann den Anspruch haben, dass Musiker ein tiefes Verständnis der indigenen Kultur oder der Musik anderer Kulturen mitbringen müssen, wenn sie diese für ihre eigene Musik fruchtbar machen möchten. Doch gemeinsame Arbeiten von Michael Brook und Nusrat Fateh Ali Khan oder von Christy Doran mit Boris Kalchak oder auch kurzfristig anberaumte gemeinsame Auftritte von Künstlern unterschiedlicher Provenienz zeigen, dass dies keine zwingende Voraussetzung für musikalische Höhenflüge ist.

Yonatan Gat integriert guinesischen Trallalero-Gesang, den Alan Lomax vor Jahrzehnten aufgenommen hat („Cue The Machines“), und balinesische Gamelan-Perkussion („Cockfight“), oder spielt ein Stück gleich direkt mit der indianischen Trommel-Gruppe Eastern Medicine Singers ein. Er gräbt vermutlich nicht tief in der Musik anderer Kulturen. Und das muss er auch nicht, denn es kann bei seinen Ausflügen in unterschiedliche andere Kulturen nicht darum gehen, deren traditionelle Musiken für die Nachwelt erhalten.
Der israelische Gitarrist mit Wahlheimat New York nutzt ihre Energie, um seine eigene, kraftvolle Klangwelt zu kreieren. Seine Methode: konstruktive Destruktion, wie man sie auch von Noise und No Wave kennt. Dabei setzt er jedoch nicht auf das reine Geräusch und verzichtet auch keineswegs auf Melodien. Aber er zerstört gerne die Strukturen – weil das Feuer schön ist, das Zusammenkrachen und das Neue, das aus der Asche entsteht.
Dabei ist seine Gitarre keineswegs lärmig. Nach einer kurzen Einführung reduziert und verfremdet er den Trallalero-Gesang zum rhythmischen Akzent, Schlagzeuger Gal Lazer baut das Stück mit mächtigem Getrommel zu einem wild treibenden Rockstück aus, über das Yonatan Gat seine unverzerrten Gitarrenklänge legt („Cue The Machines“). Natürlich kann Gat auch ordentlich auf die Pauke hauen, wie er beim krachigen „Cockfight“ zeigt. Doch noch öfter zeigt er, dass sich seine Intensität nicht im Lärm erschöpft. Und mit Stücken wie „Post-World“ – einer Improvisation zur Stimme der von Alan Lomax aufgenommenen spanischen Sängerin Catalina Mateu – und „Fading Casino“ zeigt der Gitarrist und Pianist, dass er nicht nur wilde Träume hat.

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(Foto: Glitterbeat)

Barcelona Gipsy Balkan Orchestra „Avo Kanto“

[rating=4] Quicklebendige Melancholie, anheimelnde Fröhlichkeit

Das Interesse an der Musik des Balkans ist kein neues Phänomen. Der rumänische Panflötist Gheorghe Zamfir und der eindrückliche bulgarische Chorgesang wurde schon in den 70er-Jahren vom Schweizer Volksmusikforscher Marcel Cellier für das westliche Publikum entdeckt. Cellier selbst spielte damals als Organist ein Album mit dem rumänischen Taragot-Spieler Dumitru Farcas ein. In den 90er-Jahren traten vor allem Party-Bands wie Taraf de Haïdouks und schrille Blasmusik-Gruppen wie Fanfare Ciocărlia aus Rumänien oder das Boban Marković Orchestra aus Serbien in den Vordergrund. Und wer auf sich hielt, pilgerte schon eine ganze Weile bevor Shantel mit seinem Bukovina Club den Balkan-Pop hoffähig machte, zum Guča Trumpet Festival gut 150 Kilometer südlich von Belgrad.

Wenn nun ein siebenköpfige Band aus Spanien die Musik des Ostens entdeckt, lässt das Schlimmes befürchten – die Verbindung von balkanischem Lärm mit dem exaltierten Rasseln der Flamenco-Kastagnetten.
Doch weit gefehlt: Die Musiker aus Spanien, Italien, Frankreich, Serbien, Griechenland und der Ukraine haben sich der ruhigeren Tradition der Musik des Balkans verschrieben, leben gewissermaßen die multiethnische Herkunft der Musik dieser Region. Ihre Interpretationen sind trotz der mitunter schwermütigen Melodien quickfidel – aber ohne die oft übertrieben schrille Fröhlichkeit des Balkan-Pop. Durch die Arrangements und den oft schmelzenden Klang der Klarinette sind Klezmer-Einflüsse tonangebend, „Csi Lav Tu“ und „Galla rojo, galla negro“ bieten eine flotte Gipsy-Swing-Gitarre, und wer möchte, erkennt die spanische Herkunft und Anklänge an den Mittelmeerraum.

Das Barcelona Gipsy Balkan Orchestra übertreibt es nicht mit aufgesetzt wirkender Fröhlichkeit, sondern bringt beseelt interpretierte Lieder für die gepflegte Unterhaltung – und wenn neben den von der Wochenendstimmung aufgekratzten Besuchern einer melancholisch in sein Glas schaut, finden sie auch für ihn das richtige Lied.
Schade nur, dass man gleich mehrere osteuropäische Sprachen sprechen muss, um zu verstehen, mit welchen Worten man vom Barcelona Gipsy Balkan Orchestra getröstet wird – denn im Booklet sind die Texte ausschließlich in Originalsprache abgedruckt.

Bisherige Rezensionen zum bulgarischen Chorgesang, den
Taraf de Haïdouks und Fanfare Ciocărlia auf schallplattenmann.de

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(Foto: Galileo)

Naked in English Class „Selfing“

[rating=3] Alte Songs im Geist von gestern – schräg und poppig

Naked in English Class ist die Coverband von Olifr M. Guz, dem Kopf der Schweizer Indie-Band Aeronauten, der sich auch als Solo-Künstler beträchtliche Meriten verdient hat. Gemeinsam mit Taranja Wu nimmt er sich Songs alter Haudegen vor. Manche, etwa The Sonics, sind nur noch Nischenliebhabern ein Begriff. Von anderen wird der Name durch Coverversionen am Leben erhalten. Das gilt zum Beispiel für Vince Taylor, von dessen „Brand New Cadillac“ viele meinen, er sei von The Clash. Oder „I’m Gonna Find A Cave“: Den Song des US-amerikanischen Sängers und Komponisten James Radcliffe verbindet man mit der britischen Rockband The Sorrows.
Zur Sammlung kommen auch Stücke von Outcasts wie Billy Childish und weitaus bekannteren Künstlern, etwa Iggy Pop und die B52’s.

Das Duo hat also Geschmack und Durchblick – und das Ergebnis ist wesentlich besser, als man es bei einer Band dieses Namens erwartet. „Throw That Beat In The Garbage Can“ (B52’s) wird zur rustikalen Elektropop-Nummer, die auch von den Eurythmics stammen könnte. Auch „Psycho“ (ursprünglich ein Rock’n’Roll-Song von The Sonics) passt mit seinem simplen, treibenden Beat und seinem fröhlichen Gesang in die 80er-Jahre-Elektropop-Schublade, hier allerdings eher im Stil von Les Rita Mitsouko oder Soft Cell. „Gimme Danger“, das Rock-Stück von Iggy Pop & The Stooges, das Naked in English Class schon auf einem früheren Album interpretiert haben, inszenieren sie auch dieses Mal düster und abgründig.
Die Coverversionen von Naked in English Class sind deutlich im Geist von Olifr M.Guz entstanden, dessen Aeronauten seit jeher gerne die Rohheit der Art brut – oder des Punk – mit schmissigen, ‚catchy‘ Melodien verbinden. Insofern ist das Album im doppelten Sinn retro: alte Stücke mit dem noch immer lebendigen Geist von gestern interpretiert.

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(Foto: Ikarus Records)

Mehmet Polat Trio „Ask your heart“

[rating=4] Kontemplativ

Die Kompositionen von Mehmet Pollat sind wie eine unauffällige Landschaft, deren mannigfaltige Reize man erst entdeckt, wenn man in ihr aufgeht und sich den Details widmet. Vordergründig sind es kontemplative Stücke, aus denen Polats Oud-Soli und der klagende Ton der Ney hervorstechen. Während die Melodien des ebenfalls türkischstämmigen Ney-Spielers Sinan Arat durchweg getragen bleiben, schwingt sich der Bandleader auch zu quirligen Improvisationen auf, die – etwa bei „Everything is in you“ – auch mal in die Tiefe führen: Polat hat seine Oud um zwei Bass-Saiten erweitert.
Mehmet Polat setzt diesen Effekt wohldosiert ein und zwingt so den Hörer auch dann zur Ruhe, wenn er ihn mit neuen Höranreizen anregt. Und selbst wenn das Trio während einer kurzen Passage in „Simorgh“ anklingen lässt, dass es sogar rocken könnte, stört das die Ruhe nicht.

Die bedächtigen Kompositionen von Mehmet Polat begünstigen die melancholische Stimmung. Maßgeblich forciert wird diese durch die traurige Wehmut, die meistens im Ton der Nay mitschwingt. Selbst wenn sie ihre Freude hinausspielen, machen es die drei Musiker nicht himmelhoch jauchzend, sondern mit angenehm verhaltener Fröhlichkeit.

Offizielle Homepage von Mehmet Polat

(Foto: Qrious)