Kategorie: Neu erschienen

Ashia Bison Rouge „Oder“

Ashia_Bison_Rouge_Oder[rating=4] Vielstimmig und intensiv

Erst sorgte es in der populären Musik bei einzelnen Stücken für die bestimmende Klangfarbe, später wurde es bei Gruppen wie Rasputina und Apocalyptica zum zentralen Instrument: Das Cello hat in der Popmusik seit Jahrzehnten seinen festen Platz. Auch beim neuen Album von Ashia Grzesik steht es im Mittelpunkt. Die Cellistin und Sängerin hat sich ihrer Begleitmusiker entledigt, sich deren Namen Bison Rouge einverleibt und spielt – bis auf wenige Ausnahmen – solo und trotzdem vielstimmig. Sie loopt einzelne Sequenzen, schichtet die Spuren übereinander. Zum Teil schickt die in den USA aufgewachsene Polin die Töne auch durch Effektgeräte. Das Prinzip ist bekannt – der Schweizer Bassist Mich Gerber setzt es schon seit den 90er-Jahren ein –, doch Ashia Bison Rouge fügt eine weitere, tolle Facette hinzu.

Das Cello scheint ein für dieses Prinzip ideales Instrument zu sein. Es deckt den Bereich der männlichen Stimme ab. Ashia Bison Rouge, kann ihre kräftige Stimme mit einem ordentlichen Bass unterlegen oder ihren Stücke mit einer Art Streichquartett einen klassischen Touch geben. Und gezupft wird das Cello auch zu einer kleinen Rhythmusmaschine. Wenn Ashia Grzesik höhere Töne braucht, holt sie sich eine Geige dazu, mitunter ist auch eine Ukulele zu hören.

Der Albumtitel „Oder“ verweist auf den Strom, der Polen und Deutschland trennt. Beide Länder spielen in der Biographie der Künstlerin, die derzeit in Berlin, lebt eine Rolle. Die Stücke sind auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, der Song „Dig In Our Roots“ kündigt das schon im Titel an. Ihre – mit Ausnahme des auf Polnisch gesungenen Titelstücks „Oder“ –überwiegend stimmungsvollen und gelegentlich melancholischen Stücke singt Ashia Bsion Rouge in Englisch. Die Melodie des romantischen „Hold and Fall“ erinnert an Gershwins „Summertime“. Die durch repetitive Loops zwangsläufig redundanten Passagen mancher Stücke bringen sie in die Nähe der Minimal-Music, auch wenn sie keineswegs die suggestive Kraft der Kompositionen eines Philip Glass ausstrahlen. Dafür hat Ashia Bison Rouge ihre kraftvolle Stimme, die sie nicht nur akzentuiert und energisch, sondern durchaus auch subtil einsetzt.

Offizielle Homepage von Ashia Bison Rouge

(Foto: Jaro)

Femme Schmidt „Raw“

index[rating=1] Pop-Noir? Überproduzierter Girlpop!

Es fällt zunächst nicht schwer, Femme Schmidt in die Rubrik ‚hübsches Mädchen in den Fängen abgezockter Produzenten‘ einzuordnen. So produzierte der umtriebige Guy Chambers, bekannt aus der Zusammenarbeit mit Robbie Williams, ihr Debüt 2011. Dieses Mal war der Londoner Glen Scott (James Morrison, Mary J. Blige, James Blunt, u.a.) an den Reglern, unterstützt von zwei Kollegen, die neben etlichen weiteren Kollegen tatkräftig beim Songwriting mitwirkten. Auch der Künstlername der gebürtigen Elisa Schmidt aus Koblenz weist in die Richtung ‚Girl-Pop mit internationalem Anspruch‘.  Der erste Titel, „The Edge“, beginnt bombastisch mit Anklängen an Adele und James-Bond-Soundtracks und rauscht vorbei. Nicht unangenehm, aber auch nichts, was sich in den Gehörgängen festsetzen würde. Die Dame hat eine angenehme Stimme, die jedoch gegen die üppigen Arrangements und die leichtgewichtigen Kompositionen einen schweren Stand hat.

‚Pop-Noir‘ soll das sein, aber es gibt weder Stilbruch noch Aufbegehren gegen Konventionen und Klischees. An diesem Album ist nichts rauh oder gar schmutzig, unkonventionell ist ihre Musik auch nicht. Dafür müsste Femme Schmidt zunächst einmal einen eigenen Stil entwickeln und nicht nach dem Erfolg von Adele und anderen schielen. Vielleicht sollte sie ihre Produzenten feuern. Möglicherweise sollte sie mit einer kleinen Band eigene Songs einspielen, die ihre Stimme zur Geltung kommen lassen. Dazu müsste sie eine musikalische Persönlichkeit entwickeln, die nicht wie ein Abziehbild aus den Sechzigern und dem ‚Besten von heute‘ daherkommt, und Texte schreiben mit Dingen, die sie selbst bewegen.

Denn das bestehende Konzept geht trotz durchaus guter Ansätze nicht auf. Das aus altbekannten Zutaten fabrizierte „Surround me with your Love“ – ist der Song passt gut als Begleitung des Jahrmarkts der Eitelkeiten in der frühabendlichen Cocktailbar – vermag immerhin durch die Melodie, den gehauchten Gesang und die Atmosphäre zu punkten. Auch der Torch-Song „Loving Forces“ über die verflossene Liebe bietet schöne Momente, wenngleich man Femme Schmidt den bitteren Liebes- oder Trennungsschmerz nicht völlig abnimmt. Aber auch zwei mehr als nur nett anzuhörende Titel würden die restlichen nicht ungeschehen machen. Daher bleibt zu hoffen, dass Femme Schmidt sich auf ihre Stärken besinnt und die Klischees abstreift.

Offizielle Homepage von Femme Schmidt

(Foto: Warner)

Jochen Distelmeyer „Songs from the Bottom Vol. 1“

distelmeyer[rating=3] Teils erstaunlich, teils langweilig

Jochen Distelmeyer, vormals Vordenker von Blumfeld und nummehr Teilzeit arbeitender Schriftsteller, gönnt sich eine kreative Pause. Er veröffentlicht ein Cover-Album mit gut abgelagerten Songs von Joni Mitchell, Al Green und sogar Pete Seegers „Turn, turn, turn“, das die meisten wohl von den Byrds kennen. Das klingt ganz gut, auch wenn die Welt sicher weder auf die folkpopige Version von Lana del Reys „Video Games“ gewartet hat noch auf die x-te Fassung des Seeger-Songs. Zwar gibt es viele Interpretationen fremder Songs, die das Original um Längen schlagen. Wer denkt bei „All along the Watchtower“ an Bob Dylan? Nicht der Songwriter, sondern Jimi Hendrix hat den Song berühmt gemacht. Ganz so kongenial ist Jochen Distelmeyer nicht. Ihm gelingt jedoch ein unaufgeregtes, von intellektuellem Ballast weitgehend befreitetes Album.
Wobei: So ganz ohne intellektuellen Überbau geht es bei einem Protagonisten der Hamburger Popschule natürlich nicht. Im bekannten anspielungsreichen und diskursverliebtem Jargon der Hamburger Schule lässt uns Jochen Distelmeyer einiges wissen: Den Titel des Albums verdankt er einem Kevin Ayers-Song. Die Songs spielte er während der Lesungen seines Romandebuts „Otis“. Die Titelauswahl hängt mit den Themen zusammen, die er darin verarbeitet hat – Hadesfahrten, Löcher, Leaks, Sexual Politics der Antike, Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer – kurz: „Gesänge aus Basements, Backyards und tieferen Schichten“, so Jochen Distelmeyer.
Das klingt nach einem großen, wenn nicht gar großspurigen Versprechen. Er kommt ihm nicht immer nach. Distelmeyer hat eine angenehme Stimme, die Begleitung bleibt zurückhaltend. Bei der Songauswahl – darunter auch Britney Spears „Toxic“ und „Bittersweet Symphony“ von Verve – zeigt er eine schöne stilistische Spannweite, die durch den Gesang und die reduzierten Arrangements erstaunlich homogen klingt. Und Jochen Distelmeyer zeigt, dass er auch richtig gut sein kann – zum Beispiel beim Avici-Dancefloor-Knaller „I could be the One“. Perlende Klavierakkorde, Hall, akustische Gitarre, sparsame Synthiarrangements, gepflegte Melancholie – hier passt alles wunderbar. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass vermeintlich seelenlose Musik für den Massenmarkt und intellektuelle Musiker sich im Pop-Universum durchaus bestens vertragen können.
Fazit: nicht die Zukunft des Pop, aber zumindest ein gutes Album.

CTM „Suite For A Young Girl“

[rating=3]ctm[rating=?] Anklänge an Progressive-, Jazz- oder Postrock wirken wie Wegweiser im unbekannten Terrain.

CTM ist die Abkürzung von Caecilie Trier Music. Die Dänin ist Cellistin, Sängerin und Komponistin, „Suite for a young Girl“ ist ihr zweites Mini-Album. Acht kurze Titel, knappe zwanzig Minuten Musik. Zu hören gibt es Klänge, die zwischen Ambient, Avantgarde, Electronic, Jazz und Klassik changieren. Ein guten Eindruck vermittelt der erste Titel, „Return of the Hunters“. Cello-Klänge werden von orchestralen Synthesizer-Sounds abgelöst, Wasser plätschert, eine Gitarre wird beiläufig gezupft. Kein Anfang, kein wirkliches Ende, keine Melodie, keine offensichtliche Struktur. Es muss eine ziemlich seltsame, versponnene junge Dame sein, für die Ms. Trier aufspielt. Angeblich dachte die Künstlerin bei dem Titel an Breughels Gemälde „Heimkehr der Jäger“ aus dem Jahr 1565, auch bekannt unter dem Titel „Die Jäger im Schnee“. Dort sehen wir Männer und ihre Hunde, die kurz vor Einbruch der Dunkelheit von einer ziemlich erfolglosen Jagd zurückkehren, in einer karg winterlichen Landschaft. Mensch und Tier sind gleichermaßen erschöpft. In den kahlen Bäumen sitzen Raben, während unten im Dorf die anderen Bewohner auf dem vereisten Dorfteich dem Wintersport frönen.
„The Way a Mouth is a Mouth“ überrascht mit Gesang, wie auch „Cezanne“, der den Pop-Hörgewohnten schon eher schmeichelt. Das klingt jedoch weniger anstrengend, als man vermuten könnte. Um an „Suite For A Young Girl“ Gefallen zu finden, sollte man eine gewisse Neugierde auf Dinge mitbringen, die nicht gerade naheliegen. „La Mer“ wiederum könnte durchaus als eine Art reduzierter Kunst-Pop durchgehen, wie man ihn von den späten Talk Talk kennt. Diese hatten jedoch ihr eigenes Universum.

Caecilie Trier verfügt über eine angenehm dunkle Stimme, aber bisweilen beschlich mich der banausische Gedanke, sie möge doch einfach einmal still sein und nur die Musik sprechen lassen. Wollte und muss sie natürlich nicht. Beeindruckend sind der Stilwille und der Hang zum Gesamtkunstwerk allemal. Spontanität sollte man daher nicht erwarten, Humor ist auch nicht gerade die Stärke der jungen Dame. Ihre Musik wirkt getragen und ernst. „Rhythm of Rally“ geht in der ersten Minute beinahe als ambitionierter Pop durch, verklingt dann jedoch in Lautmalerreien. Ähnliches, wenngleich ausufernder, kennen wir noch aus der hohen Zeit progressiver Musik.
Auf „Suite For A Young Girl“ fehlt alles, was Popmusik in der Regel ausmacht – Melodie, Rhythmus, ein eingängiges Thema sowie Texte, die sich zwischen Liebe und Schmerz bewegen. In diesem Sinne liefert CTM ein karges,radikales Werk, das immer wieder konventionelle Anklänge aufnimmt, wie im abschliessenden Song „Escorted/The Road“, der – wenngleich in einer anderen Stimmlage – zart an Joni Mitchells große Jazzrock-Zeit erinnert.

Swaying Wires „I Left a House Burning“

BATTLE046_72DPI[rating=3] Bekannte Mischung, aber gekonnt angerichtet. Macht Appetit auf mehr und vermag bis zum Frühjahr mit wohligen Klängen zu wärmen.

Es ist kalt. Was hilft da besser als verträumter Folkpop aus Finnland? Das mögen auch die Swaying Wires gedacht haben, als sie die Veröffentlichung ihres zweiten Albums in den Wintermonat Januar legten.
Zwei Jahre sind seit ihrem Debut vergangen, es gab einige Tourneen und Streitigkeiten, aber die Stimme von Sängerin Tina Karkinen klingt immer noch glasklar, hell, verträumt. Stellenweise ergänzt ein Hauch von Melancholie die zunächst sehr sanfte Atmosphäre des Albums. „Dead Bird“ beginnt verhalten, die akustischen Gitarren und die dezente Rhythmusgruppe bilden einen perfekten Klangteppich für Karkinen und ihre Texte. Mag man hier noch von der vermeintlichen Lagerfeuerromantik eingenommen sein, so zeigen sich doch subtil kleine Störungen: »I see the wing of a dead bird … a view for sore eyes«. Unversehends gesellen sich dunkle Schatten zum schönen Abend in der freien Natur. Bereits im nächsten Song, „Nowhere“, zieht das Tempo an und die elektrische Gitarren werden schon mal etwas lauter.
Man mag sich in „Tuesdays Bells“ an die zu Unrecht unbekannt gebliebene englische Band Whistler erinnert fühlen, die ähnliche Songs mit entsprechender Stimmung produzierte, aber das sind vage Reminiszenzen. Gehen wir mal davon aus, dass die Band sich fleissig durch den Katalog des Folkpop, der aktuelleren Psychedelia und anderes gehört hat. Entscheidend ist jedoch immer noch, was man aus all den Einflüssen macht.
Tina Karkinen singt ihre Songs als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sie beherrscht, bei aller Begrenzung ihrer Stimme, souverän die Register der Genres, in denen sich der musikalische Rahmen bewegt. Mehr noch: Die Welt ist – zumindest in musikalischer Hinsicht – klein geworden. „Surrender“ könnte ebenso gut in einem Studio irgendwo in Amerika aufgenommen worden sein, was als Kompliment gemeint ist. Auch die Produktion ist erstaunlich reif für eine noch junge Band. Alles wirkt wie aus einem Guss, alles passt.

Respekt. Die Swaying Wires lassen auf ihrer zweiten CD „I left a House Burning“ einen eigenen Klangkosmosentstehen, der den Hörer für eine Dreiviertelstunde auf eine Reise mitzunehmen vermag – obwohl es auch einige schwache Momente gibt. „Suddenly“ etwa klingt mit seinen Chören und dem Mellotron zu sehr nach Westcoast-US-Pop der schlimmeren Sorte. Zweifellos wäre es auch nicht schlecht gewesen, Karkinens zarter Mädchenstimme hin und wieder irgend etwas Biestiges entgegenzusetzen, eine sägende Gitarre etwa oder eine männliche Reibeisenstimme. Das dachte die Band wohl auch. So kommen in „Fear“ immerhin die E-Gitarren etwas stärker aus der Deckung und Karkinens Stimme wird eher wie ein Instrument eingesetzt. Obwohl der Song mit Glockenspiel-Klängen lieblich endet, läßt er durchaus Anklänge an Psychedelia erkennen. Doch wo Furcht ist, wächst auch die Hoffnung. Daher folgt auf „Fear“ das Stück „Hope“ – vielleicht eine Kostprobe finnischen Humors. Kurz vor Schluss wird es in „Ways to Remember“ mit Piano und dezenter Streicherbegleitung noch einmal balladesk. Und süß, fast zu süß.

Stephanie Nilles „Murder Ballads“

stephanie nilles[rating=3] Schauerliche Moritaten, mit schwarzem Humor gewürzt

Schreckliche Geschichten erzählt die Pianistin und Sängerin Stephanie Nilles – von Mord und Totschlag, von grassierender Waffengewalt in den USA („Open Season“), dem manchmal grausamen Schicksal namenloser Flüchtlinge („The Deportee“) oder auch schlicht vom „Slaughter Haus“.
Das alles kommt im LowFi-Sound daher, denn Ms. Nilles produziert und verlegt ihre Werke selbst. Hierbei greift sie nicht nur auf die obskure, wenn auch beliebte und langjährige Tradition der Moritaten zurück, die von Mord und Totschlag zumeist aus der Perspektive des Täters berichten, sondern zitiert gerne und häufig Barrelhouse und Traditional Jazz.
Aufgrund der ungeschliffenen Vortrags- und Produktionsweise wird Ms. Nilles gelegentlich in die Nähe des Punk gerückt. Hier zählen aber mehr  Geste und Produktionsweise als musikalische Einflüsse. Stephanie Nilles ist ausgebildete Konzertpianistin und gewann bereits als Teenager etliche Talentwettbewerbe. Sie verliess die klassische Konzertlaufbahn jedoch frühzeitig, um sich zunächst als Singer-Songwriter in New Yorker East Village zu versuchen. Schliesslich landete sie in New Orleans. Ausgedehnte Tourneen in den USA absolvierte sie – in ihrem Wagen nächtigend – auf eigene Faust. Mittlerweile hat sie es, wie sie verrät, zu einem Zelt gebracht. Solcherart gestählt, haut die Künstlerin munter in die Tasten und singt inbrünstig vom blutigen Handwerk. Genüßlich zelebriert sie dabei Cover von Jelly Roll Mortons „The Murder Ballad“ oder vom Blueser Blind Willy McTell, in dessen „A to Z Blues“ der eifersüchtige Liebhaber berichtet, wie er seiner Angebeten das Alphabet mit einem scharfen Messer in die geliebte Hautritzt – nur um ihr klar zu machen, was sie erwartet, wenn sie fremd gehen sollte.
Nilles interpretiert diese Rollenprosa fulminant, wenngleich ihr gesangliches Talent limitiert ist. Die Auswahl der Songs, eben Balladen und Moritaten über Mörder und ihre Opfer, erklärt sie so: “ Ich denke, dass alle Schauerballaden Geschichten über den Kampf zwischen Gut und Böse sind. (…) Und meistens gewinnt das Böse (…) Ich dachte, dieses Genre ist wunderbar geeignet, um über schillernde, verrückte Typen zu erzählen. (…) Als Songwriter muss man sich da gar nicht groß anstrengen. Die Geschichten sind an sich schon interessant.“ Das hat darüberhinaus den Vorteil, dass sie nicht viel von sich selbst preisgeben muss, denn „Bänkelsänger berichten ja nie von sich selbst, sondern aus dem Leben anderer“.
Und klar: Wer solche Songs hört und spielt, darf den schwarzen Humor nicht verachten. Darüber verfügt die 32-jährige Nilles sicherlich, wie ihre Website zeigt. Dort schaut sie uns Betrachter durch einen Strick an, zeigt Charlie Chaplin und bezeichnet sich selbst als böse Fee der amerikanischen Pseudo-Intellektuellen. Optisch sieht sie aus wie eine Kreuzung zwischen Sandy Denny, der allzu früh verstorbenen britischen Folksängerin, und Janis Joplin, der Heroine der 60er-Jahre.

Planeausters „Humboldt Park“

Planeausters_Cover_Believe[rating=3] Erstaunlich Reifes aus der Provinz

Was bedeutet Rockmusik heute? Ein gigantisches Geschäft, Konzertarenen, in denen man für viel zu viel Geld die Band des Abends auf grobkörnigen Videoleinwänden sehen kann. Oder wahlweise Mehrzweckhallen mit mieser Akustik und überhöhten Getränkepreisen. Irgendwo in weiter Ferne stehen alte Männer auf der Bühne und spielen die Songs unserer Jugend. Das ist alles recht traurig, erfüllt aber offenbar seinen Zweck.
Dann kommt wieder eine Platte wie „Humboldt Park“ ins Haus, von einer deutschen Band namens Planeausters. Aus Ravensburg! Hier ist das Ergebnis umgekehrt zum abgeschmackten Rockzirkus: Man erwartet wenig und wird aufs Angenehmste überrascht. Nicht, dass die Planeausters die Zukunft des Rock’n’Roll verkörperten oder mit ungehörten Ideen aufwarteten. Die drei Jungs machen es so wie viele andere junge Bands. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten, sie spielen ihre Songs, und beide nehmen eine mit auf eine Reise. Sänger und Gitarrist Michael Moravek hat sich durch den goßen Fundus amerikanischer Singer-Songwriter gehört und kann bei Bedarf auch den jungen Dylan zu neuem Leben erwecken – wie etwa in „Stranger in a Stranger’s Clothes“, das beinahe klingt wie His Bobness 1969. Der Song „Never Forget“ erinnert dagegen an amerikanischen Desert-Rock; er funktioniert prächtig und wirkt weit weniger epigonal als man zunächst denkt.

Moravek und seinen beiden Mitmusikern gelingt mit „Humboldt Park“ das Kunststück, Altes und Bekanntes mit Neuem zu einem eigenständigen Klang zu vermischen. Das liegt unter anderem daran, dass der Mann überzeugend Geschichten erzählen kann. Hinzu kommt, wie in „Wouldn’t say it’s over“ oder „The Golden Days of Missing you are over“, ein gewisser lakonischer Humor. Dazu sind Gesang und Musik angenehme unaufgeregt. Sicher, Moraveks Gesang zeigt ab und an noch zu sehr seine Bewunderung für Mike Scott von den Waterboys. Und mitunter weisen nicht nur Gitarrensound, Bass und Drums, sonder auch Melodien und Songaufbau deutliche Anklänge an große Vorbilder auf. Trotzdem: Für die relativ junge Band aus Ravensburg ist das mehr als respektabel.

Eingespielt wurde „Humboldt Park“ in Chicago, in einem Studio, das sich in der Nähe des Humboldt Parks befindet – einem jener Orte, die man bei Einbruch der Dunkelheit dem Vernehmen nach meiden sollte. Die Themen der Planeausters sind trotzdem weniger urbane Gewalt oder die Hektik der Großstadt. Ihre Musik folgt eher dem Kompass der Sehnsucht nach Freiheit und Weite, also uramerikanischen Mythen. Und ihre Texte thematisieren die ewige junge Erfahrung von Liebe und Enttäuschung, drehen sich also um das große Ganze, das sie mit einer angenehmen Mischung aus Humor und Melancholie präsentieren.
Die Arrangements sind allerdings überwiegend sparsam: Hier spielen überwiegend drei Typen Gitarre, Bass, und Schlagzeug, und einer singt. Und auch wenn man gelegentlich eine Mundharmonika, eine Orgel und auch mal eine Trompete hört, wirkt nichts überfrachtet.

Small Time Giants „Stethoscope“

index[rating=3]

Erinnert an Gitarrenbands der leiseren Sorte, setzt aber auch eigene Akzente.

Die Small Time Giants kommen aus Grönland und sind eine der Lieblings-Rockbands dieser Insel. Was das im internationalen Pop-Zirkus bedeutet, kann sich jeder ausmalen. Wer „Big in Greenland“ ist, könnte genau so gut Popstar auf Pluto sein. Einerseits.
Andererseits eröffnet eine solche Nischenexistenz ungeahnte Möglichkeiten. Auch Zwerge haben einmal klein angefangen. Und: Größe allein besagt gar nichts. Immerhin hat es die vier Jungs unterdessen nach Kopenhagen verschlagen, was verglichen mit Grönland schon hautnah am Puls des Pop ist. Und so dauerte es auch ’nur‘ ein Jahr, bis ihre Debut-CD auch ausserhalb Grönlands und Dänemarks erhältlich ist.

Genug der Vorreden. Entscheidend ist immer noch, was hinten, also aus den Lautsprechern raus kommt. Grönland muss eine grundentspannte Insel sein, mit einem gehörigen Schuss Melancholie im Gemüt der Insulaner. Die Musik der Small Time Giants auf „Stehthoscope“ erinnert sicher nicht von ungefähr an
britische Indie-Gitarren-Bands der leiserern Sorte.
Die Vorbilder sind noch recht präsent. Aber die Jungs haben ein feines Gespür für Melodien und für dramatischen Song-Aufbau. Lead-Sänger Miki Jensen gelingt es gut, Emotionen und Stimmungen zu transportieren, wie in „Undiscovered Potential“, wo es hoffnungsvoll heisst: „We know every Flower will grow through Concrete“. Beinahe Hit-Potential – auch ausserhalb von Grönland – hat der Song „A Basement with a View“, der wie die meisten Titel auf beinahe naive Weise verhaltenen Optimismus verkörpert.

Musikalisch pendelt die Band irgendwo im Pop-Kosmos zwischen hallenden Gitarren, stellenweise opulenten orchestralen Keyboard-Melodien, Computer-gestützten Drums und einer angenehmen Stimme des Sängers. Jener mangelt es zwar an Tiefe und Variationsbreite, aber welcher Pop-Sänger kann das schon für sich in Anspruch nehmen? Wie bei vielen Platten-Debüts üblich, fehlt noch Routine. Die eingeschlagene Richtung ist noch nicht völlig ausdefiniert, und Änderungen im Sound sind vorstellbar. Wer jedoch eine nette Indie-Pop-Platte hören möchte, die zwischen einer Art post-adoleszenten Melancholie mit optimistischem Ausblick changiert, ist hier richtig. Die Small Time Giants treten mit ihrem Debüt sympathisch und bescheiden auf, ohne große Geste und ohne Anspruch, den Pop neu zu erfinden. Beim nächsten Mal darf es aber ruhig auch mal ein wenig dynamischer zur Sache gehen. Jetzt, im nebligen November, bieten sie die richtige Mischung.

New Order „Music Complete“

index[rating=2] Keine schlechte Platte, aber auch keine aufregende.

Zehn Jahre nach ihrem letzten Album versuchen New Order – wie so viele in die Jahre gekommene Stars – einen Spagat: Einerseits will die Band ihrem musikalischen Markenkern treu bleiben, andererseits will sie nicht völlig den Anschluss an aktuelle Trends verpassen. Logisch, dass der erste Song, „Restless“, sofort ein Aha-Gefühl auslöst. Hier erklingt eine gut gemachte Mischung aus typischer New-Wave-Melancholie der Achtziger und gegenwärtigen Klängen. Das geht ganz gut los, führt jedoch unweigerlich zu der Frage, ob man dieses Album eigentlich wirklich braucht.
Natürlich nicht, lautet die Antwort. Denn im Verlauf des beinahe einstündigen Werkes stellt sich erst zaghaft, dann stärker eine gewisse Langeweile ein. Wirkte die Fusion von Dancefloor und Wave auf „Blue Monday“, einem Klassiker der Band, damals originell, so zeigen die heutigen Bemühungen Zeichen von Epigonalität und Eklektizismus. Das Niveau ist dabei immer noch hoch, die Musiker gut in Form und die Gäste, hochkarätig. Auch hier das gleiche Kalkül wie bei den Sounds: Neben alten Recken gibt es aktuelle Mitstreiter. Leider dürfen letztere den Klang nicht wirklich beeinflussen, denn New Order-Mastermind Bernard Sumner behält natürlich die Kontrolle. Und einstige Helden wie Iggy Pop wirken einfach müde.

„Music Complete“ vermittelt ein durchaus ambivalentes Gefühl. Einerseits erzeugt der Wiedererkennungswert der Musik eine gewisse Nostalgie, andererseits wirkt Vieles beliebig. Nach sieben, spätestens acht Titeln ist man eigentlich gesättigt – auch, weil heute an Gitarrenklängen, melancholischen Sängern, Dancefloor-Rhythmen oder Allerweltszeitkritik kein Mangel herrscht. „Music Complete“ ist keine wirklich schlechte Platte geworden, aber eben auch keine aufregende.

Doran, Stucky, Studer, Tacuma „Call me Helium“

0608917115529[rating=2] Das Produkt einer amerikanisch-irisch-schweizerischen (oder umgekehrt) Zusammenarbeit.

‚Call me Helium‘ soll der Meister selbst in einem seiner letzten Interviews gesagt haben: Helium, das leichteste Element und Gas als Metapher gegen das Schwere des irdischen Daseins – leicht, farb- und geruchslos, flüchtig. Ein interessanter Gedanke von Jimi Hendrix, der sich in gewisser Weise durch seinen frühen Tod selbst unbeabsichtigt der Erdenschwere entzog.
Einerseits ist über und von Hendrix alles gehört, gesagt, gefilmt, remastered und wiederaufgelegt worden. Es schwirren unzählige Veröffentlichungen, Statements und Dokumentation über die kurze Karriere des Ausnahmegitarristen durch sämtliche Medien. Seine vier Veröffentlichungen zu Lebzeiten liegen in allen Formaten vor, und die Zahl der nicht autorisierten ist Legion. Unzählige Saitenvirtuosen haben ihm seither – 45 Jahre! – nachgeeifert, zumeist mit zweifelhaftem Erfolg.
Andererseits hat der Meister sich mit seinem Austritt aus unserem Kosmos unsterblich gemacht. Und so, wie niemand nach dem Sinn der x-ten Bach-Interpretation fragt, kann man sich die Frage nach dem Sinn von „Call me Helium“ selbst beantworten. Allerdings war Jimi Hendrix kein großer Komponist, sondern ein herausragender Instrumentalist. Und das macht einen entscheidenden Unterschied. Denn nicht unbedingt was, sondern wie er spielte war entscheidend. Dennoch: Seine Musik ist da und zugänglich, warum sollte man sie nicht neu interpretieren? Dass es nicht einfach darum geht, sie nachzuspielen versteht sich bei Christy Doran, Erika Stucky, Fredy Studer und Jamaaladeen Tacuma von selbst.
Gitarrist Christy Doran und Drummer Fredy Studer sind fast Zeitgenossen von Jimi Hendrix, nur wenig später geboren und seit den Sechzigerjahren im Jazzrock aktiv. Bassist Tacuma bewegt sich in einem ähnlichem Umfeld und spielte mit Ornette Coleman oder James Blood Ulmer. Sängerin Erika Stucky wiederum, die sich auch schon mal als Schwarze Witwe inszenierte (ihr jüngstes Album heißt „Black Widow“, was die Spinnen davon halten, ist nicht bekannt), kommt aus einem vergleichbaren musikalischen Umfeld wie die anderen Beteiligten.

Es ist jedoch nicht so, daß die älteren Jazzrocker oder Rockjazzer dem Meister einfach ihre Referenz erweisen wollen. Christy Doran läßt die Sau raus. Seine Gitarre bahnt sich den Weg durch das Werk von Hendrix wie die Axt im Walde.
Natürlich verzichtet das Quartet nicht auf das unzerstörbare „Hey Joe“, nicht auf „Foxy Lady“ oder „Machine Gun“. Streckenweise zeigt Doran, wie gut er Hendrix‘ Spielweise, seine Sounds und „Signature Tones“ kennt. Mitunter klingt er fast wie das Original. Weil ein guter Jazzrocker aber immer auch mit dem Kopf arbeitet, gibt es häufig zusätzlich – und mitunter auch im selben Titel – noch die historisch-kritische Interpretation. „Machine Gun“ kommt als Noise daher, „Hey Joe“ zunächst sehr reduziert, dann jedoch überinterpretiert. Sängerin Stucky versucht, dem doch recht männlich geprägten Song und Text eine irgendwie weibliche Note und einen eigenen Stil zu verleihen. Bei ihr kommt der vielbesungene Frauenmörder Joe dann nicht ungeschoren nach Mexiko, sondern endet am Galgen. Kleinkunst trifft in diesem Moment auf Classic Rock. Auch die Idee, zeitgenössische Titel mit den Songs von Hendrix zu verweben, wirkt nicht wirklich stimmig. Passt „Sergeant Pepper“ zu „In from the Storm“, „Drifting“ zu Graham Nashs gern gehörter Schnulze „Teach your Children“?

Junge Hörer werden durch „Call me Helium“ den Zugang zum amerikanischen Gitarrengott wohl kaum finden, dafür sind die Fassungen des Quartetts zu skurril-verkopft. Auch, weil sich das Quartett nicht dafür entscheidet, seinen Vortrag eine Richtung zu geben und zwischen Ironie und Hommage schwankt. Vielleicht hätte man Jamaaladeen Tacuma öfter von der Leine lassen sollen, etwa wie in „Gypsy Eyes“, wo die drei Instrumentalisten mal richtig gut harmonieren.
So bleibt „Call me Helium“ eine interessante Randnotiz zum großen Buch, das Jimi Hendrix geschrieben hat.