Autor: TheNoise

Georges Gachot „Wo bist du, João Gilberto?“

João Gilberto, als Erfinder des Bossa Nova eine musikalische Legende, ist als Musiker wie auch als Mensch kompliziert. Er ist vom optimalen Klang besessen und lebt extrem zurückgezogen – als Phantom in einem Hotelappartement in Buenos Aires, wie es heißt. Der deutsche Journalist Marc Fischer hat sich auf die Suche nach seinem Idol gemacht. Mit dessen 2011 erschienenen Buch „Hobalala – Auf der Suche nach João Gilberto“ in der Hand, tappt nun auch der Schweizer Regisseur Georges Gachot auf Fischers Spuren durch Brasilien. Er trifft Leute, die auch Fischer getroffen hat, und erfährt von ihnen alte Geschichten, weil João Gilberto auch für seine Gesprächspartner ein Rätsel ist und sie ihn seit fünfzehn oder noch mehr Jahren nicht gesehen haben. Am Ende scheint Gachot zu gelingen, was Fischer offenbar verwehrt geblieben ist: Er darf sich in einem Hotelkorridor anhören, wie – angeblich – der wahrhaftige João Gilberto hinter der Tür das Stück „Ho-ba-la-la“ für ihn spielt.
Georges Gachot gelingt es weder, Fischers obsessive Spurensuche mitreißend zu vermitteln, noch ergründet er Wesen und Musik des brasilianischen Komponisten, Gitarristen und Sängers. Zum Glück kann er wenigstens dann und wann einen von Gilbertos Hits einspielen und den einen oder anderen Ausblick von einem Hotelzimmer auf den Strand von Ipanema zeigen, den allerdings Antônio Carlos Jobim berühmt gemacht hat. João Gilbertos Musik ist gleichzeitig zurückhaltend-ruhig und ergreifend, Gachots Film ist unaufdringlich und langweilig. Es ist eben nicht jeder imstande, der Stille Kraft zu verleihen.

Bisherige Rezensionen zu João Gilberto auf schallplattenmann.de

Wikipedia-Eintrag (EN) zu João Gilberto

(Foto: Gachot Films)

Theodor Shitstorm „Sie werden dich lieben“

[rating=3] Selbstbewusst ins richtige Licht gesetzt

Aus Widrigkeiten Profit schlagen: Ihre hürdenreiche Anreise nach Belgrad, wo sie in der Wohnung von Freunden zwei Wochen lang Lieder schreiben wollten, haben die Liedermacherin Desiree Klaeukens und Dietrich Brüggemann, im Hauptberuf Regisseur und Drehbuchautor, gleich zu einem Stück verwurstet. Sie scheinen Spaß an allem zu haben, was schief gehen kann, und geben schon mit dem Auftakt („Getriebeschaden“) einen Hinweis darauf, dass Aufzählungen ihr beliebtes Stilmittel ist. Meist setzen sie es ganz originell ein.
Die Musik des Duos ist nicht vom Himmel gefallen: In „Kunst“, klingt Brüggemanns Stimme nach dem frühen Frank Spilker, die schwermütigen Refrains von „Nicht dein Typ“ und „Mama, schick mir die Platten von Reinhard Mey“ wirken wie von der Hamburger Band Die Heiterkeit geliehen.
Es ist leicht, das Duo in der deutschen Indie-Pop-Geschichte zu verorten, die sie um einige vergnügliche, mal flotte, mal getragene Songs bereichern. Diese könnten sie im Liedermacherstil inszenieren. Mit Golo Schultz (Bass) und Florian Holoubek (Schlagzeug) hat sich das Duo jedoch zwei Mitstreiter geholt, und damit es weniger nach Reinhard Mey im Duett mit Jenny Jürgens klingt die Chose mehr in Richtung Indie-Pop gedreht.

Das kommt ganz gut, auch wenn Schönheit in erster Linie im Auge des Betrachters liegt und in zweiter nach der richtigen Beleuchtung verlangt. „Ich sehe auch gut aus“, heißt es ganz selbstbewusst in „Nicht dein Typ“ – vor der selbsteinsichtigen Einschränkung: „es ist nur eine Frage des Lichts“. Das gilt ja, wenn man das Selbstbild nicht mit rosaroter Brille über das Zulässige hinaus korrigiert, für die meisten Menschen. Theodor Shitstorm wissen das – und als veritable Beleuchtungskünstler gelingt es ihnen immer wieder, dass man über den bescheuerten Namen hinwegsehen und sogar die Aufzählungsmarotte immer wieder originell finden kann.

Facebook-Seite von Theodor Shitstorm

(Foto: Staatsakt)

Okonkolo „Cantos“

[rating=4] Harmonische Vielfalt

Die Musik von Okonkolo ist ein lebhaftes Zeugnis für den seit Jahrhunderten bestehenden globalen Austausch. Die Santería-Religion – und damit auch ihre musikalische Ausprägung – kam mit den afrikanischen Sklaven nach Kuba. Sie verbreitete sich in der Karibik und wanderte weiter in die USA. Okonkolo-Bandleader Abraham „Aby“ Rodriguez, selbst Santería-Priester, veredelt die Musik der Naturreligion, indem er das zentrale Instrumentarium, Perkussion und Gesang, um Bläser, Gitarre, Bass oder auch Streicher erweitert und mit anderen musikalischen Einflüssen anreichert. Da wird zum Beispiel der Gesang mit Bläsersequenzen unterlegt, die aus David Byrnes „The Knee Plays“ stammen könnten. Dann wiederum wandelt sich eine getragene Melodie zum quirligen Highlife-Stück.
Die Wechsel im Lead-Gesang tragen zur Lebendigkeit bei: Die energiegeladenen Stimmen von Amma McKen, die sich der Bewahrung der Traditionen der nigerianischen Yoruba verschrieben hat, und der interdisziplinären Künstlerin und Sängerin Jadele McPherson kontrastieren die urtümlicher wirkende Stimme von Abraham Rodriguez.
Es ist eine harmonische Vielfalt, in der die überlieferten Rhythmen modern zelebriert werden und sich die zeitgenössischen Elemente in einem traditionellen Gewand zu einem neuen, mal erhaben wirkenden, dann wieder vibrierend-lebendigen Klang vereinen.

Facebook-Seite von Okonkolo

(Foto: Der Promotor)

Ammar 808 „Maghreb United“

Kein TR-808 kam für dieses Album zu Schaden, vermerkt Ammar 808 auf der Albumrückseite ironisch. Anders als dressierte Affen kann man das kultige Rhythmusgerät aus den 80er-Jahren ohnehin nicht quälen. Und das macht er auch mit den Hörorganen nicht. Denn auch wenn seine Musik dringlich und tranceverdächtig ist: Die treibenden Rhythmen, die der tunesische Musiker aus seinem TR-808 holt, klingen grummelig warm, die Stimme ist stimulierend und das kollektive Händeklatschen feuert zusätzlich an.
Ammar 808 verschwistert unterschiedliche Musik des Maghreb – algerischen Raï, Gnawa aus Marokko und tunesische Targ-Musik – mit dem TR-808. Mit dabei: die Sänger Mehdi Nassouli (Marokko), Sofiane Saidi (Algerien) and Cheb Hassen Tej (Tunesien) und traditionelle Instrumente wie die Kastenhalslaute Gumbri, Gasba-Flöten (die arabische Form der Ney) und der tunesische Zukra-Dudelsack.
Der Auftakt, „Degdega“, ist ein Versprechen – der Rest ist Erfüllung. Die Trennlinie zwischen Tradition und Moderne ist nicht offenkundig. Einerseits klingen die Stücke mit ihren traditionellen Elementen – dem Klang der Instrumente, auch wenn die Gumbri bereits elektrifiziert ist, oder dem Wechsel zwischen Hauptsänger und Chorgesang –, als seien sie bei einem riesigen Freudenfest in einem Gebirgsdorf hoch oben im Sahara-Atlas aufgenommen worden. Gleichzeitig ist die so natürlich wirkende Musik von Ammar 808 wie geschaffen für fiebrig durchtanzte Nächte in den Clubs der westlichen Metropolen.

(Foto: Glitterbeat)

Sväng „Sväng plays Tango“

[rating=3] Nostalgisch

Der Markt für Gruppen wie Sväng ist nicht groß. Doch als vermutlich weltweit einziges Mundharmonika-Quartett hat es die finnische Gruppe weit gebracht. Nachdem sie im vergangenen Jahr mit dem Überblicksalbum „Hauptbahnhof“ ihr bereits 14-jähriges Bestehen haben Revue passieren lassen, widmen sich Sväng nun der heimischen Tango-Tradition.
Das klingt weniger befremdlich, als man vermuten mag. Der durch Metall-Lamellen erzeugte Klang der Mundharmonika ist dem Klang des Bandoneons durchaus verwandt – in den Höhen etwas schriller, während die Bass-Mundharmonika mit ihrem angenehm warmen Klang die dem finnischen Tango innewohnende Melancholie angenehm unterstreicht.

Die vier Musiker spielen den Tango rund und weich, man fühlt sich zum Fünf-Uhr-Tee ins altmodische Tanzcafé versetzt, in dem ein paar ältere Herren ihre Partnerinnen sanft in Schwung bringen. Dass es in „Syyspihlajan Alla“ („Unter dem Vogelbeerbaum im Herbst“) um den Kummer über die eingezogenen Lieben und das vergossene Blut des zweiten Weltkriegs geht , vermittelt sich dem unbedarften Hörer nicht. Den 1942 geschriebenen Tango könnte man aus der Distanz auch als verhalten-kecke Auftaktmelodie eines Kinderfilms taxieren.
Doch das Begleitheft korrigiert die Einschätzung und erklärt, dass die roten Früchte des Zierstrauchs für das Blutvergießen stehen.
Melancholie ist eine Grundstimmung des finnischen Tangos. Dadurch wirkt er selbst in einer exaltierteren Variante, wie sie Sväng mit „Hugolle“ spielen, noch ein wenig zurückgenommen. Das Stück ist eine der vier Eigenkompositionen, mit denen Sväng den Tango auf ihre eigene Art interpretieren. Auch der „Tango Humiko“, ein Gruß an ihre japanischen Fans, zählt dazu.

Warm, weich und trotzdem immer wieder akzentuiert – auch wenn dem finnischen Tango mehr Gemütlichkeit als Hang zur Dramatik innewohnt, legen Sväng eine überraschende und ungeahnte Verwandtschaft des finnischen Tango zur portugiesischen Saudade nahe. Vielleicht haben sie nur zu viel Cristina Branco gehört. Möglicherweise sind sich aber auch Nord und Süd viel näher, als der Blick auf den Globus nahelegt. Auf nach Norden.

Offizielle Homepage von Sväng

→ Der finnische Tango bei Wikipedia erklärt

(Foto: Galileo)

Werner Aeschbacher „Atchafalaya“

[rating=4] Heimisch und welthaltig, unaufgeregt-ruhig und trotzdem anregend

Das Album beginnt mit einem Seufzer, aus dem der bedächtige „La Valse de Marcel“ entsteht. Es ist eines der für Werner Aeschbacher typischen Stücke, bei dem man sich nichts anderes vorstellen kann, als dass er erst eben sein schweres Werkzeug weggelegt hat und mit eigentlich für grobe Arbeiten gemachten Fingern zum Örgeli greift und die Welt um ihn herum beruhigt. Die Vögel hören auf, sich am Futterhäuschen um die Körner zu streiten, die Katze lässt das Mausen sein und die Nachbarin hört auf, mit dem Geschirr zu klappern, und setzt sich auf die Hausbank neben die feuerroten Lilien.

Aeschbachers Musik mag ihre Wurzeln im Alpenraum haben. Aber die Zweige sind in die Welt gewachsen. Man spürt, dass sie in Finnland und Rumänien, in Südfrankreich und auch in den Südstaaten der USA den gleichen Effekt hervorruft.
Schon ab dem zweiten Stück – der „Steve Riley Stomp“ ist nicht dem Schlagzeuger der Hardrockband L.A. Guns gewidmet, sondern eine Komposition des gleichnamigen Cajun-Akkordeonisten – beginnt es ein wenig fremdländisch zu klingen, ohne dass einen Aeschbacher in gänzlich unvertrautes Gelände führt.
Seine eigenen Kompositionen wirken einfach und oft auf Anhieb so vertraut wie Volkslieder. Das gelingt ihm auch auf seinem neuen Album „Atchafalaya“, auf dem er seinen Aufenthalt in Louisiana (USA) verarbeitet und die meisten Stücke auf dem dort erworbenen Akkordeon spielt. Aber vielleicht sind sich Cajun- und Schweizer Akkordeonmusik ja viel ähnlicher, als wir wahrhaben wollen. Ein Indiz dafür könnte die Knopfharmonika aus Louisiana sein: Diese klingt ähnlich wie das Langnauer Örgeli, das der Akkordeonsammler schon seit Kindheit spielt.

Werner Aeschbachers Musik ist beschaulich, aber ohne billige Zerstreuung, traditionsbewusst, aber nicht rückwärtsgewandt, unaufgeregt-ruhig und trotzdem anregend. Seine immer kurzen Stücke sind nicht mit überflüssigen Verzierungen überfrachtet und man hört ihnen die Mühe nicht an, die es für die selbstverständliche Einfachheit braucht, die diese Kompositionen ausstrahlten. Ob Walzer, Swing oder Tango: Seine Stücke klingen immer leicht und klar und Aeschbachers Spiel wie selbstvergessen – als ob es ihm völlig egal ist, ob die Vögel zanken, ihm die Katze miauend eine Maus zu Füßen legt und die Nachbarin mit Tellerklappern seinen Rhythmus torpediert. Wahrscheinlich ist es das ja auch.

Bisherige Rezensionen zu Werner Aeschbacher auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Werner Aeschbacher

(Foto: Narrenschiff)

Uwe Schütte (Hrsg.) „Mensch – Maschinen – Musik“

Als Kraftwerk 2012 ins New Yorker Museum of Modern Art (Moma) eingeladen wurde, konnte man durchaus unken, dass die deutsche Band damit endgültig museal sei – und folglich auch ein Fall für das Archiv. Tatsächlich möchte man die Arbeitsmaterialien und Requisiten der Band so wenig dem Verfall preisgeben wie die Manuskripte von Franz Kafka. Und bei der Präsentation im Museum ist die Form der Darstellung entscheidend. Ralf Hütter als in der Band verbliebener Gründer (das zweite Gründungsmitglied Florian Schneider ist 2009 ausgeschieden) hatte nämlich schon im Jahr vor den Moma-Auftritten mit der 3D-Videonistallation im Münchner Lenbachhaus deutlich gemacht, dass er Kraftwerk nicht in den Archiven verstauben lassen, sondern mit neuen Ansätzen lebendig halten möchte.

Die Moma-Konzertreihe wurde in Museen anderer Länder wiederholt. Der Literaturwissenschaftler und Musikjournalist Uwe Schütte initiierte 2015 in Birmingham und Düsseldorf (im Umfeld der Konzerte in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) wissenschaftliche Konferenzen und legt nun eine umfassende Bestandsaufnahme zum – wie es im Untertitel heißt – „Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ vor.
Er geht dabei chronologisch vor und lässt seine Gastautoren Aspekte der jeweiligen Phasen beziehungsweise Alben beleuchten. Das reicht vom Frühwerk im Krautrock-Kontext über die einzelnen Alben („Autobahn“, „Radio-Aktivität“, etc.) bis hin zum „Katalog-Komplex“, der Zusammenfassung der acht Kraftwerk-Alben (2009) und zur späteren 3D-Retrospektive (2012).
In einem zweiten, „Diskurse“ genannten Teil dieser „Kraftwerkstudien“ geht der Band Themen wie den Texten der Gruppe, ihren Sound-Topographien oder der internationalen Ausstrahlung auf den Grund.

Die in „Mensch – Maschinen – Musik“ präsentierten Themen sind naheliegend. Die Texte erheben wissenschaftlichen Anspruch, sind dabei jedoch überwiegend so geschrieben, dass auch interessierte Nicht-Akademiker nur gelegentlich Wortbedeutungen nachschlagen müssen. Ohnehin sind nicht alle Analytiker dem akademischen Ansatz verpflichtet. (Ja, Analytiker: Die Kraftwerk-Analyse ist fest in männlicher Hand, nur zwei von 15 Texten stammen von Frauen.) Der Sammelband ist auf die Würdigung der deutschen Elektroniker angelegt. So mancher Text legt nahe, dass kritische Punkte ausgeblendet wurden. Der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl wählt gleich den vertrauten journalistischen Ansatz und führt in seinen Text zum Album „Tour de France“ ungeachtet des mangelnden Erkenntnisgewinns damit ein, dass er wegen einer Hüftarthrose zwar wie Ralph Hütter Fahrrad fährt, jedoch nur Mountainbike.
Dass es auch besser geht, zeigt Ulrich Adelt. Der Dozent für amerikanische Literatur und Autor eines Buches über Krautrock verdeutlicht, dass Kraftwerks Frühwerk eine „Geschichte des gezielten Vergessens“ ist, um den Mythos zu pflegen, dass die Band mit „Autobahn“ (1974) aus dem Nichts gekommen sei. Und Eckhard Schumacher, Germanist mit Arbeitsschwerpunkt Gegenwartsliteratur und Pop, weist darauf hin, dass man die Kraftwerk-Geschichte der 80er-Jahre zwar als Erfolgsgeschichte lesen kann – die Gruppe aber nach mit den Alben „Autobahn“ und „Computerwelt“ den Zenit überschritten hatte und „es danach eher bergab ging“. Dafür wurde in dieser Phase die Flamme, die Kraftwerk in den 70er-Jahren entzündet hatten, von anderen weitergetragen – indem sich die New Romantics diesseits und Afrika Bambaataa jenseits des Atlantiks auf das deutsche Quartett bezogen.

Ob beabsichtigt oder nicht: Jede Auseinandersetzung mit der Band, jeder Beitrag zum Thema Kraftwerk – nicht nur in diesem Band – fördert die Mythologisierung der Gruppe. Beiträge, in denen der Fan spricht, werden eher eine kürzere Halbwertszeit haben als solche, die aus einer objektiveren Perspektive verfasst wurden. Doch darf man die Heterogenität der Texte als willkommene Abwechslung deuten – und als Ganzes betrachtet ermöglicht diese Bestandsaufnahme Kraftwerk-Eleven einen umfassenden Einstieg und Kennern eine fundierte Vertiefung mancher Aspekte der Band, die seit einigen Jahren viel unternimmt, um über den sicheren Platz im musikalischen Kanon hinaus ein fester Bestandteil der Kunstwelt zu werden.

Bisherige Rezensionen zu Kraftwerk auf schallplattenmann.de

(Foto: C.W.-Leske-Verlag)

Fatima Dunn „Birds and Bones“

[rating=4] Anrührende Lieder einer originellen Alleinunterhalterin

Sie habe kein Geld, singt sie frohgemut wie ein unbekümmert in die Welt hinauswandernder Hans Guck-in-die-Luft, dafür aber einen Garten mit tausend Blumen und ebenso vielen Bienen, einen Wald mit tausend Bäumen, einen Himmel voller Wolken und – vor allem – tausend Lieder, die sie zu den Leuten trage. Das ist wohl am meisten wert, denn „denen mit Musik gehört die Welt“.

Wenn man das Stück hört, „Kei Gäld“, weiß man längst, dass die irisch-schweizerische Sängerin aus wenig viel machen kann. Es ist der letzte Song auf dem neuen Album der Cellistin und Sängerin, die sich etwas großsprecherisch ‚One Women Orchestra‘ nennt. Für die Mehrstimmigkeit muss Fatima Dunn das Rad nicht neu erfinden, sondern wie andere zuvor ihr Instrument bloß mit Loops vervielfachen und mit kleinen Effekten akzentuieren. Das ist leicht gesagt. Doch mit zupfen, streichen und gelegentlich rhythmisch auf den Korpus klopfen sind ihre Möglichkeiten auch trotz elektronischer Unterstützung beschränkt.

Aber wer braucht mehr, wenn der wahre Reichtum ohnehin die Lieder sind? Die von Fatima Dunn sind anrührend und werden von ihr seelenvoll interpretiert. Sie hat eine anmutige Stimme, die sie für anmutige Melodien auch gerne übereinanderschichtet. Ihre Songs sind von schlichter Schönheit und doch nicht ohne Raffinesse, ruhig und trotzdem eindringlich, und immer wieder auch temperamentvoll, jedoch ganz ohne aufgeregte Pop-Attitüde. Kurz: Sie sind einfach einnehmend und schön – schön geschrieben, schön gesungen und schön arrangiert –, und das, ohne belanglos zu sein. Und wenn man ganz am Ende die in ihrem Wohnort aufgenommenen Gesänge der Stare vor dem Abflug in den Süden hört, denkt man, dass Fatima Dunn mit ihren Liedern gar nicht selbst um die Welt reisen muss. Ziemlich sicher werden die Stare sie von Südeuropa bis Nordwestafrika singen. Anderswohin kann das Album fliegen – und an manche Orte kommt die Sängerin selbst zu Besuch. Das ist wahrscheinlich am schönsten.

Offizielle Homepage von Fatima Dunn

(Foto: Tourbo Music)

Samba Touré „Wande“

[rating=4] Mali-Blues, zurückhaltend und fein

Die Lage der Welt macht nicht wirklich froh, und die jahrzehntelang immer wieder fragile Situation in Mali hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter verschlechtert – ohne Aussicht auf Veränderung. Daher erstaunt es nicht, dass der malische Gitarrist und Songwriter mit „Wande“ ein äußerst melancholisches Album eingespielt hat. Selbst das seiner Frau gewidmete Liebeslied, mit dem das Album betitelt ist, wirkt schwermütig.

Trotzdem wirken die neuen Lieder von Samba Touré nicht durchweg so resigniert wie „Mana Yero Koy“, in dem er „die ganze Welt im Chaos“ sieht und beklagt, dass es „keinen sicheren Platz mehr gibt“. Er ergibt sich der Misere nicht apathisch, sondern regt an, erst einmal die persönliche Einstellung zu ändern und zusammenzustehen. Und wie Boubacar Traoré, der malische Chuck Berry, bereits in den 60er-Jahren forderte, ruft auch der um Jahrzehnte jüngere Musiker seine Landsleute dazu auf, das Glück nicht in der Emigration zu suchen, sondern die Heimat mitzugestalten.

Musikalisch steht Samba Touré in der besinnlichen Tradition des Mali-Blues, seine Lieder singt er alle in Songhai. Das extrem zurückhaltende „Wande“ erinnert Anfangs an die melancholischen Stücke von Boubacar Traoré, um bald und mit einer psychedelischen Note versehen in die Richtung seines Namensvetters Ali Farka Touré zu driften. Die Basis von „Yerfara“ („We are tired“) ist ein Lick, das den frühen Stones gut gestanden hätte, und bei „Mana Yero Koy“ („Where to go?“) zeigt der Gitarrist auf angenehme Weise, dass ihm auch tanzbare Musik nicht fremd ist.
Alle Stücke sind als harmonisches Ganzes arrangiert. Der Gitarrist bleibt prägnant, drängt sich jedoch nie in den Vordergrund, sondern fügt sich in sein stilvoll-gelassen agierendes Ensemble mit traditionellen Instrumenten wie Kalebasse, Ngoni und der einseitigen Geige Sokou ein.

Bisherige Rezensionen zu Samba Touré im Blog

Bisherige Rezensionen zu Boubacar Traoré auf schallplattenmann.de

Bisherige Rezensionen zu Ali Farka Touré auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Samba Touré

(Foto: Glitterbeat)

Susanna Nicchiarelli „Nico, 1988“

Sie müsse mit einer Band aus Amateuren touren, sagt Nico (Tryne Dyrholm) sichtlich frustriert und vermittelt ihrem Gegenüber gleichzeitig, dass sie das keineswegs ungerecht findet. Der längst in den Drogensumpf gefallenen Ikone ist offenbar bewusst, dass es kein Entrinnen gibt aus dem Kreislauf von Sucht, Versagensängsten und Erinnerungen an eine erfolgreiche Vergangenheit.
Das Leben von Nico, geboren als Christa Päffgen, Supermodel, Schauspielerin und Musikerin, lässt sich kaum in einen Film packen. Susanna Nicchiarelli (Regie und Drehbuch) gelingt es trotzdem – indem sie es als Roadmovie erzählt, das in den traurigen letzten Jahren spielt.
Die Gruppe tourt im Kleinbus durch Europa, Nico zerfressen von Sucht und Sehnsucht nach ihrem Sohn, der nicht nur ebenso drogenabhängig, sondern auch suizidgefährdet ist. Ihr Manager Richard (John Gordon Sinclair) ist in sie verliebt. Doch der landet allenfalls bei seiner Assistentin Laura (Karina Fernandez) – beim „Trostpreis“, wie diese selbst sarkastisch feststellt. Nicos Zuneigung gilt durchweg anderen.

Susanna Nicchiarelli zeigt Nico und ihre Entourage überwiegend auf Tour – Paris, Prag, Nürnberg, Krakau – und in kurzen Episoden in ihrem Zuhause Manchester. Neue Bekanntschaften und Gespräche mit Nicos Manager nutzt sie für Rückblenden, mitunter werden auch kurze Originalaufnahmen mit Nico eingeblendet.
Die Regisseurin zeigt eine Protagonistin, die mit unbändiger Stärke schwach ist. Ihre Nico ist egozentrisch und kompromisslos bis zur Tyrannei. Gleichzeitig ist sie sich ihrer Schwächen und Versäumnisse bewusst, unter denen sie zwar leidet, die sie aber unbeeindruckt akzeptiert und mitunter mit bissigem Sarkasmus kommentiert. Nicht nur die Besetzung der Hauptfigur – Tryne Dyrholm stellt Nico sowohl als Person wie auch in ihrem eigenwilligen Gesangsstil differenziert und überzeugend dar – ist ein Glücksgriff. Susanne Nicchiarelli zeigt bis hin zu vergleichsweise unwichtigen Nebenrollen eine sichere Hand bei der Wahl der Schauspieler. Ebenso gelungen sind viele Szenen und Dialoge. So macht sie aus einem schlichten Konzept einen Film, der sich der geschundenen Ikone respektvoll, aber nicht beschönigend nähert und der selbst dann ausgesprochen sehenswert wäre, wenn Susanne Nicchiarelli die ganze Geschichte nur erfunden hätte.

Bisherige Rezensionen zu Nico auf schallplattenmann.de

→ Besprechungen von Filmen über Barbara und Oum Kulthum auf schallplattenmann.de

(Foto: Filmtext)