Kategorie: Texte – lesen oder hören

Uwe Schütte (Hrsg.) „Mensch – Maschinen – Musik“

Als Kraftwerk 2012 ins New Yorker Museum of Modern Art (Moma) eingeladen wurde, konnte man durchaus unken, dass die deutsche Band damit endgültig museal sei – und folglich auch ein Fall für das Archiv. Tatsächlich möchte man die Arbeitsmaterialien und Requisiten der Band so wenig dem Verfall preisgeben wie die Manuskripte von Franz Kafka. Und bei der Präsentation im Museum ist die Form der Darstellung entscheidend. Ralf Hütter als in der Band verbliebener Gründer (das zweite Gründungsmitglied Florian Schneider ist 2009 ausgeschieden) hatte nämlich schon im Jahr vor den Moma-Auftritten mit der 3D-Videonistallation im Münchner Lenbachhaus deutlich gemacht, dass er Kraftwerk nicht in den Archiven verstauben lassen, sondern mit neuen Ansätzen lebendig halten möchte.

Die Moma-Konzertreihe wurde in Museen anderer Länder wiederholt. Der Literaturwissenschaftler und Musikjournalist Uwe Schütte initiierte 2015 in Birmingham und Düsseldorf (im Umfeld der Konzerte in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) wissenschaftliche Konferenzen und legt nun eine umfassende Bestandsaufnahme zum – wie es im Untertitel heißt – „Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ vor.
Er geht dabei chronologisch vor und lässt seine Gastautoren Aspekte der jeweiligen Phasen beziehungsweise Alben beleuchten. Das reicht vom Frühwerk im Krautrock-Kontext über die einzelnen Alben („Autobahn“, „Radio-Aktivität“, etc.) bis hin zum „Katalog-Komplex“, der Zusammenfassung der acht Kraftwerk-Alben (2009) und zur späteren 3D-Retrospektive (2012).
In einem zweiten, „Diskurse“ genannten Teil dieser „Kraftwerkstudien“ geht der Band Themen wie den Texten der Gruppe, ihren Sound-Topographien oder der internationalen Ausstrahlung auf den Grund.

Die in „Mensch – Maschinen – Musik“ präsentierten Themen sind naheliegend. Die Texte erheben wissenschaftlichen Anspruch, sind dabei jedoch überwiegend so geschrieben, dass auch interessierte Nicht-Akademiker nur gelegentlich Wortbedeutungen nachschlagen müssen. Ohnehin sind nicht alle Analytiker dem akademischen Ansatz verpflichtet. (Ja, Analytiker: Die Kraftwerk-Analyse ist fest in männlicher Hand, nur zwei von 15 Texten stammen von Frauen.) Der Sammelband ist auf die Würdigung der deutschen Elektroniker angelegt. So mancher Text legt nahe, dass kritische Punkte ausgeblendet wurden. Der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl wählt gleich den vertrauten journalistischen Ansatz und führt in seinen Text zum Album „Tour de France“ ungeachtet des mangelnden Erkenntnisgewinns damit ein, dass er wegen einer Hüftarthrose zwar wie Ralph Hütter Fahrrad fährt, jedoch nur Mountainbike.
Dass es auch besser geht, zeigt Ulrich Adelt. Der Dozent für amerikanische Literatur und Autor eines Buches über Krautrock verdeutlicht, dass Kraftwerks Frühwerk eine „Geschichte des gezielten Vergessens“ ist, um den Mythos zu pflegen, dass die Band mit „Autobahn“ (1974) aus dem Nichts gekommen sei. Und Eckhard Schumacher, Germanist mit Arbeitsschwerpunkt Gegenwartsliteratur und Pop, weist darauf hin, dass man die Kraftwerk-Geschichte der 80er-Jahre zwar als Erfolgsgeschichte lesen kann – die Gruppe aber nach mit den Alben „Autobahn“ und „Computerwelt“ den Zenit überschritten hatte und „es danach eher bergab ging“. Dafür wurde in dieser Phase die Flamme, die Kraftwerk in den 70er-Jahren entzündet hatten, von anderen weitergetragen – indem sich die New Romantics diesseits und Afrika Bambaataa jenseits des Atlantiks auf das deutsche Quartett bezogen.

Ob beabsichtigt oder nicht: Jede Auseinandersetzung mit der Band, jeder Beitrag zum Thema Kraftwerk – nicht nur in diesem Band – fördert die Mythologisierung der Gruppe. Beiträge, in denen der Fan spricht, werden eher eine kürzere Halbwertszeit haben als solche, die aus einer objektiveren Perspektive verfasst wurden. Doch darf man die Heterogenität der Texte als willkommene Abwechslung deuten – und als Ganzes betrachtet ermöglicht diese Bestandsaufnahme Kraftwerk-Eleven einen umfassenden Einstieg und Kennern eine fundierte Vertiefung mancher Aspekte der Band, die seit einigen Jahren viel unternimmt, um über den sicheren Platz im musikalischen Kanon hinaus ein fester Bestandteil der Kunstwelt zu werden.

Bisherige Rezensionen zu Kraftwerk auf schallplattenmann.de

(Foto: C.W.-Leske-Verlag)

Wolfgang Herrndorf/Sandra Hüller „Bilder deiner großen Liebe“

[rating=5] Ein fulminantes Schauspiel in Tönen

In seinem Coming-of-Age-Roman „Tschick“ hat Wolfgang Herrndorf der 14-jährigen Streunerin Isa, verwahrlost und obdachlos, eine – wenn auch wichtige – Nebenrolle zugedacht. Anders als ursprünglich geplant, hat der früh verstorbene Autor dem so selbstsicheren wie flegelhaften Mädchen später einen eigenen Roman gewidmet. „Bilder deiner großen Liebe“ blieb unvollendet und ist posthum als Fragment erschienen.

Isa nutzt die Gunst des offenen Tores und verschwindet hinter einem Lieferwagen aus der psychiatrischen Anstalt. Sie schläft tagsüber und wandert nachts durch Wiesen und Wälder, sie hungert, durchsucht unter den angewiderten Blicken der Hausbesitzer Mülltonnen nach Essbarem, sie erzählt von Begegnungen und Erinnerungen, sie sinniert über das Leben, tagträumt und erfindet phantastische Geschichten. Und natürlich – es ist die einzige schwache Passage, weil die beiden Musiker als Sprecher mit der Performance von Sandra Hüller nicht im geringsten mithalten können – trifft sie Tschick und Maik.

Die für die Bühne gemachte Interpretation des Werks (die nebenbei bemerkt, nicht überall gut ankam), ist von derart enormer Wucht und Intensität, dass sie auch ohne visuelle Eindrücke ein Ereignis ist. 71 Minuten lang flüstert, singt und wütet eine fulminante Sandra Hüller Isas Erfahrungen, Gedanken, Selbstzweifel und Einsichten in die Welt.
Die Schauspielerin gibt dabei auch eine veritable Sängerin ab. Ihre Mitstreiter, die Multi-Instrumentalisten Sandro Tajouri und Moritz Bossmann, sorgen für die Filmmusik. Dabei beschränken sie sich nicht darauf, den Text zu untermalen, sondern illustrieren und verstärken ihn von subtil bis ungemein packend.

Wikipedia-Eintrag von Wolfgang Herrndorf
Wikipedia-Eintrag von Sandra Hüller

(Foto: Roofmusic)

Andreas Dorau/Sven Regener „Ärger mit der Unsterblichkeit“

Dorau_Unsterblichkeit [rating=2] Mäßig gut, aber offen und selbstkritisch erzählte Anekdötchen aus dem Leben eines Fast-Popstars.

Andreas Dorau zählt zu den skurrilen Figuren der deutschen Popmusik. Als Schüler wurde er durch einen Zufallstreffer zu einem der Aushängeschilder der Neuen Deutschen Welle. Sein Song „Fred vom Jupiter“, der es in der österreichischen Hitparade auf Platz 13 und in Deutschland auf Platz 21 schaffte, darf auf keinem NDW-Sampler fehlen. Obwohl er weder als Musiker noch als Filmemacher durchschlagende Erfolge erzielte, ist er heute noch eine feste (Szene)Größe. Er veröffentlicht – wenn auch in großen Abständen – neue Werke, die durchweg in die Kategorie schwer vermarktbar fallen. Es fällt ihm offensichtlich nicht schwer, sich zwischen die Stühle zu setzen – eine durchaus achtenswerte Einstellung.

Doraus Erinnerungen, die von Sven Regener niedergeschrieben wurden, folgen durchweg einem Strickmuster: Auf die Erzählung einer Begebenheit aus Doraus Leben folgt eine Pointe, die mal mehr und meist weniger sitzt. Mehr als ein Schmunzeln entlocken die Texte jedoch kaum. Und die Seitenhiebe, mit denen er beispielsweise seinen ehemaligen Chef bedenkt, den aktuellen Berliner Kulturstaatssekretär, steigern den Lesegenuss ebenso wenig wie die Art, in der diese Geschichten erzählt werden. Denn selbst wenn man das Konzept der gesprochenen Sprache verfolgt, darf man eine Inspiration haben und muss nicht gleich von ihr überkommen werden. Wobei der Ton, den Sven Regener anschlägt, oft derart naiv ist, dass man sich gelegentlich fragt, ob nicht doch Ironie im Spiel ist.

Zu lesen lohnen sich die Geschichten also nicht wegen der literarischen oder sprachlichen Qualität, sondern weil Andreas Dorau ein origineller Protagonist der deutschen Musik seit den 80er-Jahren ist und weil er offenherzig ist und sich nicht scheut, seine Eigenheiten zu benennen, etwa dass er nur auf der Bühne und nur aus Angst tanze. Oder ist auch das schon wieder ein Märchen? Dorau steht zu seinen Fehlern und Fehleinschätzungen. So bekennt er etwa deutlich, sich nicht besser verhalten zu haben als die Epigonen, die die Neue Deutsche Welle in den Tod kommerzialisiert haben.

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Wikipedia-Eintrag zu Andreas Dorau

(Foto: Galiani Verlag)

Jimi Hendrix „Starting At Zero“

Starting at Zero von Jimi Hendrix[rating=4] ‚Posthume Autobiographie‘ mit überraschenden Einblicken

Inhalt ist die eine Seite, Posing die andere. Dass Jimi Hendrix seine Melodien mit den Zähnen gezupft, die Gitarre in Brand gesteckt und auf der Woodstock-Bühne die amerikanische Nationalhymne zersägt hat, galt immer als künstlerisches Statement. Mitnichten. Auf der Ochsentour als Mietmusiker hat er das „Hitparaden-R&B-Soul-Wohlfühlpaket“ heruntergenudelt, „komplett in Lackschuhen und mit ordentlicher Frisur“, und sozusagen von der Pike auf gelernt, wie man die Leute unterhält und dass es mitunter auch ein bisschen grober sein muss. Weil es so üblich gewesen sei, habe er in einem Kaff irgendwo in Tennessee angefangen, mit den Zähnen zu spielen. „Im Süden muss man das machen, wenn man nicht erschossen werden will“, erklärt er lakonisch. Dass er seine Gitarre geopfert habe, wenn er sie auf der Bühne verbrannte, wie er selbst erwähnte, war wohl auch höchstens die halbe Wahrheit – das Verbrennen war ein wohlkalkulierter Effekt. Er selbst sah sich durchaus als Entertainer und Showman.

Peter Neal, der 1967 den ersten Hendrix-Film „Experience“ drehte, hat die ‚Autobiographie‘ aus Notizen, Tagebucheinträgen, Schriften, Entwürfen sowie verbürgten Äußerungen montiert. Er beginnt mit der Geburt – Hendrix gibt vor, sich sogar noch an die Entbindungsschwester erinnern zu können – zeichnet seine schwierige Jugend nach, seinen freiwilligen Einsatz als Fallschirmspringer bei der Armee. Er lässt Hendrix aufführen, welche Musiker ihn beeinflusst haben und von seinen ersten Jahren als Sideman berichten.
Die Texte zeigen nicht nur, wie Hendrix seine Projekte vorantrieb, sondern geben auch überraschende Einblicke. Erwartungsgemäß durchgeknallte Statements wie „Die Sonne ist die Wahrheit, die auf uns herabscheint – an einem klaren Tag kann man bis in die Unendlichkeit sehen“ – zeigen seine zunehmende Spiritualität, seine Auseinandersetzung mit klassischer Musik offenbart wiederum, dass seine musikalische Wissbegierde kaum Grenzen kannte. Jimi Hendrix, der einerseits meinte, mit seinen abstehenden Haare Schwingungen empfangen zu können, andererseits Märchen von Hans-Christian Andersen oder A. A. Milnes „Pu der Bär“ las und gerne die Sterne beobachtete, war wohl wesentlich widersprüchlicher als er bislang gezeichnet wurde.

Die hier zusammengestellten Texte, in die immer wieder Liedtexte montiert sind, helfen mit, der tatsächlichen Person ein wenig näher zu kommen.

Bisherige Rezensionen zu Jimi Hendrix auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Jimi Hendrix

(Foto: Hörverlag)