Georges Gachot „Wo bist du, João Gilberto?“

João Gilberto, als Erfinder des Bossa Nova eine musikalische Legende, ist als Musiker wie auch als Mensch kompliziert. Er ist vom optimalen Klang besessen und lebt extrem zurückgezogen – als Phantom in einem Hotelappartement in Buenos Aires, wie es heißt. Der deutsche Journalist Marc Fischer hat sich auf die Suche nach seinem Idol gemacht. Mit dessen 2011 erschienenen Buch „Hobalala – Auf der Suche nach João Gilberto“ in der Hand, tappt nun auch der Schweizer Regisseur Georges Gachot auf Fischers Spuren durch Brasilien. Er trifft Leute, die auch Fischer getroffen hat, und erfährt von ihnen alte Geschichten, weil João Gilberto auch für seine Gesprächspartner ein Rätsel ist und sie ihn seit fünfzehn oder noch mehr Jahren nicht gesehen haben. Am Ende scheint Gachot zu gelingen, was Fischer offenbar verwehrt geblieben ist: Er darf sich in einem Hotelkorridor anhören, wie – angeblich – der wahrhaftige João Gilberto hinter der Tür das Stück „Ho-ba-la-la“ für ihn spielt.
Georges Gachot gelingt es weder, Fischers obsessive Spurensuche mitreißend zu vermitteln, noch ergründet er Wesen und Musik des brasilianischen Komponisten, Gitarristen und Sängers. Zum Glück kann er wenigstens dann und wann einen von Gilbertos Hits einspielen und den einen oder anderen Ausblick von einem Hotelzimmer auf den Strand von Ipanema zeigen, den allerdings Antônio Carlos Jobim berühmt gemacht hat. João Gilbertos Musik ist gleichzeitig zurückhaltend-ruhig und ergreifend, Gachots Film ist unaufdringlich und langweilig. Es ist eben nicht jeder imstande, der Stille Kraft zu verleihen.

Bisherige Rezensionen zu João Gilberto auf schallplattenmann.de

Wikipedia-Eintrag (EN) zu João Gilberto

(Foto: Gachot Films)

Theodor Shitstorm „Sie werden dich lieben“

[rating=3] Selbstbewusst ins richtige Licht gesetzt

Aus Widrigkeiten Profit schlagen: Ihre hürdenreiche Anreise nach Belgrad, wo sie in der Wohnung von Freunden zwei Wochen lang Lieder schreiben wollten, haben die Liedermacherin Desiree Klaeukens und Dietrich Brüggemann, im Hauptberuf Regisseur und Drehbuchautor, gleich zu einem Stück verwurstet. Sie scheinen Spaß an allem zu haben, was schief gehen kann, und geben schon mit dem Auftakt („Getriebeschaden“) einen Hinweis darauf, dass Aufzählungen ihr beliebtes Stilmittel ist. Meist setzen sie es ganz originell ein.
Die Musik des Duos ist nicht vom Himmel gefallen: In „Kunst“, klingt Brüggemanns Stimme nach dem frühen Frank Spilker, die schwermütigen Refrains von „Nicht dein Typ“ und „Mama, schick mir die Platten von Reinhard Mey“ wirken wie von der Hamburger Band Die Heiterkeit geliehen.
Es ist leicht, das Duo in der deutschen Indie-Pop-Geschichte zu verorten, die sie um einige vergnügliche, mal flotte, mal getragene Songs bereichern. Diese könnten sie im Liedermacherstil inszenieren. Mit Golo Schultz (Bass) und Florian Holoubek (Schlagzeug) hat sich das Duo jedoch zwei Mitstreiter geholt, und damit es weniger nach Reinhard Mey im Duett mit Jenny Jürgens klingt die Chose mehr in Richtung Indie-Pop gedreht.

Das kommt ganz gut, auch wenn Schönheit in erster Linie im Auge des Betrachters liegt und in zweiter nach der richtigen Beleuchtung verlangt. „Ich sehe auch gut aus“, heißt es ganz selbstbewusst in „Nicht dein Typ“ – vor der selbsteinsichtigen Einschränkung: „es ist nur eine Frage des Lichts“. Das gilt ja, wenn man das Selbstbild nicht mit rosaroter Brille über das Zulässige hinaus korrigiert, für die meisten Menschen. Theodor Shitstorm wissen das – und als veritable Beleuchtungskünstler gelingt es ihnen immer wieder, dass man über den bescheuerten Namen hinwegsehen und sogar die Aufzählungsmarotte immer wieder originell finden kann.

Facebook-Seite von Theodor Shitstorm

(Foto: Staatsakt)

Get The Blessing „Bristopia“

[rating=4] Jazz – Jazz + Funk + Postrock + Trip-Hop + Electronics = Get The Bleesing.

Das Spannende an der aktuellen britischen Jazz-Szene ist, dass sie zu so vielen unterschiedlichen Ergebnissen kommt, die alle einen gemeinsamen Nenner haben: höchste musikalische Qualität. In Bristol, einst von Journalisten zur „Hauptstadt des Trip-Hop“ gekürt, gründete sich bereits 1999 das Quartett Get The Blessing. Ihre Musik fasst Elemente des Jazz, des Postrock und des Trip-Hop zusammen, vermischt akustische und elektronische Sounds und setzt dabei traditionelle Solo-Instrumente des Jazz, Trompete (Pete Judge) und Saxophon (Jake McMurchie) ein. Jim Barr am Bass und Clive Deamer an den Drums bereiten dafür das rhythmische Fundament. Die beiden sind keine Unbekannten: In derselben Funktion stehen sie auch mit Portishead auf der Bühne.

Get The Blessings siebtes Album „Bristopia“ zeigt das Quartett in Hochform. Die elf Tracks pulsieren energiegeladen und rhythmisch strukturiert, gleichzeitig mangelt es nicht an freien, improvisatorischen Sequenzen. Dabei wildern die vier selbstbewusst quer durch die Musikwelt. Es ist schon hauptsächlich Jazz, was sie auf dem Album bieten, aber mit der lässigen Attitüde einer Rockband und mit dem wohlüberlegten Einsatz von Sounds und Rhythmen aus verwandten und fernen Genres. Mitunter ist das Ergebnis sogar tanzbar (Huch!), es gibt aber auch immer wieder ruhige Momente. Für zusätzliche Akzente an der Gitarre sorgen Adrian Utley von Portishead und die Pedal-Steel-Gitarristin Margerethe Björklund.

[gallery link="file" ids="3837,3835,3836"]

Das Album erscheint als CD, als Download und als limitierte LP auf orangefarbenem Vinyl, eine Augenweide und klanglich ebenso erhaben wie die digitalen Formate. Leider hat man bei der Vinyl-Ausgabe auf einen Download-Code verzichtet. Den erhält man allerdings, wenn man das Album auf der Bandcamp-Seite des Quartetts bestellt.

→ Get The Blessing Homepage

Get The Blessing auf bandcamp.com (mit Streaming- und Bestellmöglichkeit)

(Coverbild: Get The Blessing auf bandcamp.com; Vinyl-Bilder: Salvatore Pichireddu)

Okonkolo „Cantos“

[rating=4] Harmonische Vielfalt

Die Musik von Okonkolo ist ein lebhaftes Zeugnis für den seit Jahrhunderten bestehenden globalen Austausch. Die Santería-Religion – und damit auch ihre musikalische Ausprägung – kam mit den afrikanischen Sklaven nach Kuba. Sie verbreitete sich in der Karibik und wanderte weiter in die USA. Okonkolo-Bandleader Abraham „Aby“ Rodriguez, selbst Santería-Priester, veredelt die Musik der Naturreligion, indem er das zentrale Instrumentarium, Perkussion und Gesang, um Bläser, Gitarre, Bass oder auch Streicher erweitert und mit anderen musikalischen Einflüssen anreichert. Da wird zum Beispiel der Gesang mit Bläsersequenzen unterlegt, die aus David Byrnes „The Knee Plays“ stammen könnten. Dann wiederum wandelt sich eine getragene Melodie zum quirligen Highlife-Stück.
Die Wechsel im Lead-Gesang tragen zur Lebendigkeit bei: Die energiegeladenen Stimmen von Amma McKen, die sich der Bewahrung der Traditionen der nigerianischen Yoruba verschrieben hat, und der interdisziplinären Künstlerin und Sängerin Jadele McPherson kontrastieren die urtümlicher wirkende Stimme von Abraham Rodriguez.
Es ist eine harmonische Vielfalt, in der die überlieferten Rhythmen modern zelebriert werden und sich die zeitgenössischen Elemente in einem traditionellen Gewand zu einem neuen, mal erhaben wirkenden, dann wieder vibrierend-lebendigen Klang vereinen.

Facebook-Seite von Okonkolo

(Foto: Der Promotor)

C.A.R. „Look Behind You“

[rating=4] Jazz – Jazz is not dead, it just moved to Europe.

Richtig guter Jazz gedeiht manchmal im Verborgenen. So liegen die Zentren des europäischen Jazz heute zwar eher in London, Zürich, Oslo und Stockholm denn in Köln, allerdings verfügt die Domstadt über eine breit gefächerte, junge, neugierige und experimentierfreudige Jazz-Szene, die sich zumindest lokal auf eine treue Gefolgschaft verlassen kann. Das Kölner Quartett C.A.R. ist einer der vielversprechendsten Geheimtipps aus der Rheinmetropole. Gleichzeitig ist die Kategorie „Jazz“ nur eine sehr vage Beschreibung dessen, was die vier Musiker erschaffen: Mit „Kraut-Jazz“, „Psychedelic Jazz“ und „Trip Music“ versuchen sie selbst das Spannungsfeld ihrer Musik zu umschreiben. Und selbst das ist noch lückenhaft.

Ihr zweites Album „Look Behind You“ (nach dem Debütalbum „Beyond The Zero“ (2014) und der „ Interlude EP“ (2017) beginnt mit psychedelisch verfremdeten Arpeggi, die der Minimal Music entliehen scheinen, wandelt dann bald in trippige Gefilden, zitiert den pinkfloydischen Artrock der 1970er, flackert mit modernen, urbanen Grooves (ein ausdrückliches Lob für die exzellente Rhythmus-Sektion Kenn Hartwig am Bass und Johannes Klingebiel an den Drums), verlangsamt zu impressionistischen Ambient-Sequenzen und nimmt danach wieder Tempo auf. Die Stücke sind stringent aufgebaut, ohne unnütze Längen. Analoge Keyboards und ein E-Piano (geschmackvoll bedient von Christian Lorenzen) sowie Saxophon (betörend gespielt von Leonhard Huhn) übernehmen die Melodie-Führung und die meisten Soloparts, wobei der Sound immer angenehm, niemals aber oberflächig ist. C.A.R. stehen nicht für verkopften, hyper-virtuosen Jazz sondern für einen fein ausbalancierten und groovenden Gesamtklang, in dem das Kollektiv mehr ist, als die Summe der einzelnen Solisten. „Look Behind You“ bietet Musik, die man sowohl hoch konzentriert anhören als auch einfach nur im Hintergrund laufen lassen kann. Und das kann man nur von den allerwenigsten Alben sagen.

C.A.R. brechen bald für das Goethe-Institut zu einer China-Tournee auf. Vorher sind sie noch bei zwei Terminen in Deutschland zu sehen.

02.10.2018, Köln, Theater Urania

22.11.2018, Hildesheim, Klangstärke°18 Festival

 

→ C.A.R. Homepage

C.A.R. auf bandcamp.com (mit Streaming- und Bestellmöglichkeit)

(Coverbild: C.A.R. auf bandcamp.com)

Fauré Quartett „Pictures at an Exhibition“

[rating=4] Kammermusik – Die „Bilder einer Ausstellung“ und die „Études­Tableaux“ in Bearbeitungen für Klavierquartett.

Der Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky (1839–1881) gehört heute zu den meistgespielten Werken der Musikliteratur. Außer der populären Originalfassung für Klavier und der noch berühmteren Orchestrierung von Maurice Ravel gibt es, neben zahlreichen anderen „klassischen“ Transkriptionen, auch Bearbeitungen im Jazz (Allyn Ferguson), in der elektronischen Musik (Isao Tomita), im Progressive Rock (Emerson, Lake & Palmer) und sogar im Metal (Mekong Delta). Mussorgskys Werk scheint eine ungebrochene Faszination auf die Hörer auszuüben, ungeachtet der jeweils gewählten Instrumentierung.

Eine neue Bearbeitung kommt von Grigorij Gruzman und Dirk Mommertz, Letzterer ist Pianist des Fauré Quartett. Zusammen mit seinen Mitstreitern legt er nun die Ersteinspielung der gelungenen Fassung für Klavierquartett vor. Sie verbindet die Intensität und Klarheit des Originals mit den psychedelisch-düsteren Effekten der Ravel-Bearbeitung. Die Kammerfassung ist klarer in den Streicherparts, weniger transzendent als Ravels Impressionismus, wenn man es so nennen will. Gleichzeitig behält die Quartett-Fassung die virtuosen, typisch russischen Klangeffekte des Klavier-Originals bei. Das ist im Ergebnis stellenweise geradezu berauschend und lässt das wohlbekannte Werk in einem neuen Licht erscheinen. Genauso gelungen: die Bearbeitung der „Études­Tableaux“ von Sergei Rachmaninoff (1873–1943), die ebenfalls zum ersten Mal in einer Fassung für Klavierquartett erklingen.

Das Album erscheint als Download, als CD und als Vinyl-Ausgabe. Bei letzterer hat man sich etwas Besonderes einfallen lassen: Während die „Bilder einer Ausstellung“ auf der Haupt-LP zu finden sind, wurden die „Études­Tableaux“ auf eine zusätzliche 10-Inch-Schallplatte „ausgelagert“. Nur schade, dass man bei der Vinyl-Ausgabe auf einen Downloadcode verzichtet hat. Das Artwork mit dem Pop-Art-Klavier verspricht ein ungewöhnliches Hörerlebnis, die auch klanglich makellose Aufnahme des Fauré Quartett löst das Versprechen ein.

[gallery columns="2" size="medium" link="file" ids="3806,3807"]

 

auf Youtube

Homepage des Fauré Quartett

Rezension zu Fauré Quartett „W. A. Mozart: Piano Quartets auf schallplattenmann.de

Rezensionen zu verschiedenen „Pictures at an Exhibition“-Aufnahmen auf schallplattenmann.de

(Coverbild: Büro für Künstler; Vinyl-Bilder: Salvatore Pichireddu)