Autor: Salvatore Pichireddu

Get The Blessing „Bristopia“

[rating=4] Jazz – Jazz + Funk + Postrock + Trip-Hop + Electronics = Get The Bleesing.

Das Spannende an der aktuellen britischen Jazz-Szene ist, dass sie zu so vielen unterschiedlichen Ergebnissen kommt, die alle einen gemeinsamen Nenner haben: höchste musikalische Qualität. In Bristol, einst von Journalisten zur „Hauptstadt des Trip-Hop“ gekürt, gründete sich bereits 1999 das Quartett Get The Blessing. Ihre Musik fasst Elemente des Jazz, des Postrock und des Trip-Hop zusammen, vermischt akustische und elektronische Sounds und setzt dabei traditionelle Solo-Instrumente des Jazz, Trompete (Pete Judge) und Saxophon (Jake McMurchie) ein. Jim Barr am Bass und Clive Deamer an den Drums bereiten dafür das rhythmische Fundament. Die beiden sind keine Unbekannten: In derselben Funktion stehen sie auch mit Portishead auf der Bühne.

Get The Blessings siebtes Album „Bristopia“ zeigt das Quartett in Hochform. Die elf Tracks pulsieren energiegeladen und rhythmisch strukturiert, gleichzeitig mangelt es nicht an freien, improvisatorischen Sequenzen. Dabei wildern die vier selbstbewusst quer durch die Musikwelt. Es ist schon hauptsächlich Jazz, was sie auf dem Album bieten, aber mit der lässigen Attitüde einer Rockband und mit dem wohlüberlegten Einsatz von Sounds und Rhythmen aus verwandten und fernen Genres. Mitunter ist das Ergebnis sogar tanzbar (Huch!), es gibt aber auch immer wieder ruhige Momente. Für zusätzliche Akzente an der Gitarre sorgen Adrian Utley von Portishead und die Pedal-Steel-Gitarristin Margerethe Björklund.

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Das Album erscheint als CD, als Download und als limitierte LP auf orangefarbenem Vinyl, eine Augenweide und klanglich ebenso erhaben wie die digitalen Formate. Leider hat man bei der Vinyl-Ausgabe auf einen Download-Code verzichtet. Den erhält man allerdings, wenn man das Album auf der Bandcamp-Seite des Quartetts bestellt.

→ Get The Blessing Homepage

Get The Blessing auf bandcamp.com (mit Streaming- und Bestellmöglichkeit)

(Coverbild: Get The Blessing auf bandcamp.com; Vinyl-Bilder: Salvatore Pichireddu)

C.A.R. „Look Behind You“

[rating=4] Jazz – Jazz is not dead, it just moved to Europe.

Richtig guter Jazz gedeiht manchmal im Verborgenen. So liegen die Zentren des europäischen Jazz heute zwar eher in London, Zürich, Oslo und Stockholm denn in Köln, allerdings verfügt die Domstadt über eine breit gefächerte, junge, neugierige und experimentierfreudige Jazz-Szene, die sich zumindest lokal auf eine treue Gefolgschaft verlassen kann. Das Kölner Quartett C.A.R. ist einer der vielversprechendsten Geheimtipps aus der Rheinmetropole. Gleichzeitig ist die Kategorie „Jazz“ nur eine sehr vage Beschreibung dessen, was die vier Musiker erschaffen: Mit „Kraut-Jazz“, „Psychedelic Jazz“ und „Trip Music“ versuchen sie selbst das Spannungsfeld ihrer Musik zu umschreiben. Und selbst das ist noch lückenhaft.

Ihr zweites Album „Look Behind You“ (nach dem Debütalbum „Beyond The Zero“ (2014) und der „ Interlude EP“ (2017) beginnt mit psychedelisch verfremdeten Arpeggi, die der Minimal Music entliehen scheinen, wandelt dann bald in trippige Gefilden, zitiert den pinkfloydischen Artrock der 1970er, flackert mit modernen, urbanen Grooves (ein ausdrückliches Lob für die exzellente Rhythmus-Sektion Kenn Hartwig am Bass und Johannes Klingebiel an den Drums), verlangsamt zu impressionistischen Ambient-Sequenzen und nimmt danach wieder Tempo auf. Die Stücke sind stringent aufgebaut, ohne unnütze Längen. Analoge Keyboards und ein E-Piano (geschmackvoll bedient von Christian Lorenzen) sowie Saxophon (betörend gespielt von Leonhard Huhn) übernehmen die Melodie-Führung und die meisten Soloparts, wobei der Sound immer angenehm, niemals aber oberflächig ist. C.A.R. stehen nicht für verkopften, hyper-virtuosen Jazz sondern für einen fein ausbalancierten und groovenden Gesamtklang, in dem das Kollektiv mehr ist, als die Summe der einzelnen Solisten. „Look Behind You“ bietet Musik, die man sowohl hoch konzentriert anhören als auch einfach nur im Hintergrund laufen lassen kann. Und das kann man nur von den allerwenigsten Alben sagen.

C.A.R. brechen bald für das Goethe-Institut zu einer China-Tournee auf. Vorher sind sie noch bei zwei Terminen in Deutschland zu sehen.

02.10.2018, Köln, Theater Urania

22.11.2018, Hildesheim, Klangstärke°18 Festival

 

→ C.A.R. Homepage

C.A.R. auf bandcamp.com (mit Streaming- und Bestellmöglichkeit)

(Coverbild: C.A.R. auf bandcamp.com)

Fauré Quartett „Pictures at an Exhibition“

[rating=4] Kammermusik – Die „Bilder einer Ausstellung“ und die „Études­Tableaux“ in Bearbeitungen für Klavierquartett.

Der Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky (1839–1881) gehört heute zu den meistgespielten Werken der Musikliteratur. Außer der populären Originalfassung für Klavier und der noch berühmteren Orchestrierung von Maurice Ravel gibt es, neben zahlreichen anderen „klassischen“ Transkriptionen, auch Bearbeitungen im Jazz (Allyn Ferguson), in der elektronischen Musik (Isao Tomita), im Progressive Rock (Emerson, Lake & Palmer) und sogar im Metal (Mekong Delta). Mussorgskys Werk scheint eine ungebrochene Faszination auf die Hörer auszuüben, ungeachtet der jeweils gewählten Instrumentierung.

Eine neue Bearbeitung kommt von Grigorij Gruzman und Dirk Mommertz, Letzterer ist Pianist des Fauré Quartett. Zusammen mit seinen Mitstreitern legt er nun die Ersteinspielung der gelungenen Fassung für Klavierquartett vor. Sie verbindet die Intensität und Klarheit des Originals mit den psychedelisch-düsteren Effekten der Ravel-Bearbeitung. Die Kammerfassung ist klarer in den Streicherparts, weniger transzendent als Ravels Impressionismus, wenn man es so nennen will. Gleichzeitig behält die Quartett-Fassung die virtuosen, typisch russischen Klangeffekte des Klavier-Originals bei. Das ist im Ergebnis stellenweise geradezu berauschend und lässt das wohlbekannte Werk in einem neuen Licht erscheinen. Genauso gelungen: die Bearbeitung der „Études­Tableaux“ von Sergei Rachmaninoff (1873–1943), die ebenfalls zum ersten Mal in einer Fassung für Klavierquartett erklingen.

Das Album erscheint als Download, als CD und als Vinyl-Ausgabe. Bei letzterer hat man sich etwas Besonderes einfallen lassen: Während die „Bilder einer Ausstellung“ auf der Haupt-LP zu finden sind, wurden die „Études­Tableaux“ auf eine zusätzliche 10-Inch-Schallplatte „ausgelagert“. Nur schade, dass man bei der Vinyl-Ausgabe auf einen Downloadcode verzichtet hat. Das Artwork mit dem Pop-Art-Klavier verspricht ein ungewöhnliches Hörerlebnis, die auch klanglich makellose Aufnahme des Fauré Quartett löst das Versprechen ein.

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auf Youtube

Homepage des Fauré Quartett

Rezension zu Fauré Quartett „W. A. Mozart: Piano Quartets auf schallplattenmann.de

Rezensionen zu verschiedenen „Pictures at an Exhibition“-Aufnahmen auf schallplattenmann.de

(Coverbild: Büro für Künstler; Vinyl-Bilder: Salvatore Pichireddu)

 

Iveta Apkalna „Light & Dark“

[rating=3] Orgelmusik – Die ersten Solo-Orgelaufnahmen aus der Hamburger Elbphiharmonie.

Mit der Marke „Elbphilharmonie“ lässt sich werben. Das architektonisch spektakuläre Gebäude und sein Ruf als fabelhaftes Akustikwunder haben Hamburg binnen kürzester Zeit zu einem Zentrum der deutschen Musikwelt gemacht: Die Elphi ist „the place to be“. Und der Glanz der Philharmonie strahlt selbstredend auch auf die von Philipp Klais erbauten Orgel des Hauses ab.

Die Lettin Iveta Apkalna legt mit „Light & Dark“ die erste Solo-Orgelaufnahme aus der Elbphilharmonie vor. Erklärtes Ziel des Albums ist es, die Extreme des Instruments („Hell und dunkel“, „Kraft und Zärtlichkeit“ usw.) in seinen klanglichen Möglichkeiten bestmöglich abzubilden. Dazu wählte die Titularorganistin der Elbphilharmonie erfreulicherweise nicht die üblichen Orgel-Gassenhauer (sic!) von Bach, sondern modernere Werke von Schostakowitsch, Kalējs, Escaich, Gubaidulina, Janáček, Ligeti und Garūta. Das Programm erweist sich als klug gewählt und zusammengestellt: Es beginnt düster, wird dann introvertiert, dann expressiv, kontrastreich, Pathos-geladen, die Extreme auslotend und zuletzt leise und meditativ. Kein Zweifel: Mit der werbewirksamen Elbphilharmonie wird hier ein anspruchsvolles Programm an eine vermutlich breitere Käuferschicht gebracht. Das Instrument ist dabei der Star. Die gute Klangregie der Aufnahme lässt die Musik nah und gleichzeitig räumlich vernehmen.

So komplex die Musik, so aufwendig ist die Gestaltung der CD-Ausgabe (die Vinyl-Version lag mir leider nicht vor): Das edel gestaltete Digipak kommt mit einem Miniposter mit präzisen Angaben zum Orgelregister und einem 46-seitigen Booklet. Dieses enthält zahlreiche Bilder und ausführliche Informationen zur Musik, zur Künstlerin und zum Instrument.

Fazit: Eine anspruchsvolles und edles Debüt einer beeindruckenden Orgel in exzellenter Akustik mit einer technisch souveränen Solistin.

auf Youtube

Homepage von Iveta Apkalna

Homepage der Elbphilharmonie Hamburg

(Bild: Büro für Künstler)

Pablo Casals „Johann Sebastian Bach – The Cello Suites“ (3-LP-Box)

[rating=5] Barock – Pablo Casals‘ Jahrhundertaufnahme in edler Vinyl-Ausgabe.

Pablo Casals’ Aufnahmen der Cellosuiten Bachs gehören zu den ganz großen musikalischen und diskografischen Meilensteinen der Schallplatte im 20. Jahrhundert. Mehr noch: Erst durch Casals’ bahnbrechende Ersteinspielung rückten die Suiten in den Mittelpunkt des Cello-Repertoires und wurden Prüfstein für alle folgenden Generationen. Als Casals sie zwischen 1936 und 1939 aufnahm, war er bereits in seinen Sechzigern und hatte sich ein Leben lang mit den Kompositionen beschäftigt. Obwohl seine Einspielungen heute als interpretatorisch und spieltechnisch überholt gelten, haben sie nichts von ihrer Faszination verloren. Es bedarf nur einiger Noten und man versteht, warum Casals’ Aufnahmen durch die Jahrzehnte, jenseits aller Diskussionen um historisch authentisches Spiel, eine ungebrochene Faszination auf Hörer und Cellisten ausübten. Die Eindringlichkeit und Intensität mit der Casals musiziert, machen diese Einspielungen zeitlos, losgelöst von einer musikwissenschaftlichen Analyse.

Die Aufnahmen stammen aus der Schellack-Ära und sind naturgemäß klanglich nicht mit modernen Aufnahmen zu vergleichen. Dennoch: Das sorgfältige EMI-Remastering von 2011 holt vermutlich das maximale aus den Rillen heraus. Bei der nun erscheinenden, luxuriös ausgestatteten 3-LP-Box kommt dann das richtige Medium für die historischen Aufnahmen hinzu. Selbst bei einem direkten Vergleich mit der entsprechenden CD-Ausgabe von Warner Classics (dem Nachfolge-Label EMIs) kann die analoge Wiedergabe vollends überzeugen. Der Unterschied ist frappierend: Die Suiten klingen auf Vinyl viel natürlicher und wärmer als jeder Versuch, die 80 Jahre alten Aufnahmen auf CD zu pressen. Dies ist ein unverzichtbarer Meilenstein in jeder klassischen (Vinyl-)Sammlung.

Review vom 16.07.2001 zu Pablo Casals „J.S. Bach – Cello Suites No. 1-6“ auf schallplattenmann.de

Pablo (Pau) Casals auf de.wikipedia.org

Bach: Suiten für Violoncello solo auf de.wikipedia.org

(Bild: Warner Classics)

Jethro Tull „A Passion Play (An Extended Performance)“

Jethro Tull "A Passion Play (An Extended Performance)"

Jethro Tull Artwork, Ausstattung: [rating=5] ||
Musik: [rating=5] Unterschätztes Progrock-Meisterwerk in definitiver Neuauflage.

Was zunächst in einem absoluten Desaster zu enden drohte, wurde dann doch noch zu einem phänomenalen Erfolg. Das sechste Studio-Album von Jethro Tull „A Passion Play“ (1973) landete trotz (oder gerade wegen?) gelinde gesagt chaotischer Umstände bei den anfänglichen Sessions auf Platz 1 der US-Charts. Mit seinem Stil definierte es in mancherlei Hinsicht den Progrock-Sound der 1970er Jahre und gilt Kennern als eines der ganz großen Alben der Prog-Diskografie, auch wenn sein Ruhm bis heute von den beiden Vorgängern „Aqualung“ (1971) und „Thick as a Brick“ (1972) überschattet wird. Das Album ist nun in einer erweiterten, von Steven Wilson neu gemischten Fassung erschienen. Neben dem eigentlichen Album enthält die Neuausgabe auch die verworfenen Château d’Hérouville-Aufnahmen, der chaotischen Vorgeschichte also. Doch der Reihe nach …

Wohl aus steuerlichen Gründen (so wird kolportiert) quartierten sich Tull im Château d’Hérouville bei Paris ein, um einen Nachfolger für das überaus erfolgreiche „Thick as a Brick“-Album einzuspielen. Es sollte den Vorgänger an Komplexität und an Anspruch übertreffen. Doch das Schloss, in dem zuvor Elton John und Pink Floyd erfolgreich gearbeitet hatten, erwies sich als in jeder Hinsicht äußerst problematisch: Neben massiven technischen Schwierigkeiten zu Beginn der Sessions gab es einen räumlich sehr begrenzten Wohn- und Schlafbereich für die Band (inklusive Gemeinschaftsschlafraum für Band und Bettwanzen) und als i-Tüpfelchen eine waschechte Lebensmittelvergiftung, verursacht vom Inhouse-Catering des ‚Château d’Isaster‘. Die Band brach die Zelte fluchtartig ab, kehrte nach Großbritannien zurück, erholte sich und kehrte nach einigen Monaten der Pause in die Morgan Studios in London zurück, um große Teile des Château-Materials zu verwerfen und stattdessen eine ganz neue Story zu entwerfen: A Passion Play.

Als „A Passion Play“ schließlich im Sommer 1973 erschien, war die Kritik alles andere als begeistert: Das Fehlen einer radiotauglichen Single mit eingängigen Hooklines, die insgesamt sehr komplexe und ineinander verwobene Musik und die düstere, teilweise surrealistische Geschichte um Entscheidungen, mit denen man nach dem Tod konfrontiert wird (!), passten wohl nicht so ganz zum Zeitgeist der lebensfrohen Seventies. Für die beinharten Tull-Fans entwickelte sich „A Passion Play“ hingegen zum regelrechten Kult-Album. Vor allem der Text ließ viel Raum für Spekulationen und Überinterpretationen.

Rückblickend findet man heute auf „A Passion Play“ vieles dessen, was den Progressive Rock definierte (und ihn bald später in Verruf bringen sollte): Komplexität, Virtuosität, rhythmische Verschachtelungen (zu denen man einfach nicht mehr tanzen kann) und kryptische Texte mit intellektuellem Anspruch, ganz so als ob man Techniken aus der klassischen Musik mit englischer Literatur auf Rock-Instrumentarium umsetzen würde.

Die Neuauflage präsentiert das Original-Album mit einem insgesamt etwas entschlackten Sounderlebnis und die ‚Château d’Isaster-Tapes‘ (wahlweise in 5.1 oder 2.0 Stereo) mit zusätzlichem Videomaterial auf den DVDs. Steven Wilson hat – in enger Absprache mit Ian Anderson – die eine oder andere Sax-Spur gelöscht und dafür den einen oder anderen willkürlichen Eingriff des Toningenieurs korrigiert. Das Ergebnis klingt für den Kenner des Originals stellenweise hörbar anders, was nicht unbedingt von jedem Fan goutiert werden muss. Wer damit nicht zurecht kommt, findet auf den Bonus-DVD einen ‚flat transfer from the original master at 96/24 PCM‘ im gewohnten Sound. Alleine das 80-seitige Booklet und die Raritäten machen den Kauf für jeden Fan zur Pflicht, wie gut, dass es Tulls ‚proggigstes‘ Album obendrauf gibt. Und wer tolerant genug ist, die (mit Anderson abgesprochenen) Änderungen am Master hinzunehmen, der erhält „A Passion Play“ in der bestmöglichen Form. Mit dieser Edition können die Fan-Spekulationen über die Rätsel des Albums auf jeden Fall weiter gehen.

→ Bisherige Rezensionen zu Jethro Tull auf schallplattenmann.de

(Bild: Networking Media)

Rebekka Bakken „Little Drop Of Poison“

Rebekka Bakken "Little Drop of Poison"

Rebekka Bakken [rating=5] Tom-Waits-Songs in gelungenen Big-Band-Arrangements und phantastischer Sängerin

Es kann wohl kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Tom Waits zu den besten Songwritern der letzten 40 Jahre zu zählen ist. Seine bittersüßen Lieder von Verlierern, Trinkern, Huren, Träumern, armen Schluckern und Sonderlingen sind zeitlose Geschichten, ein Spiegel der Realität jenseits der Hochglanzfassaden der heilen Welt der Bürgerlichkeit. Dabei wechselt Waits musikalisch geschickt zwischen Jazz, Blues und Rock-Einflüssen, bleibt aber bei allem seinem eigenen Stil treu.

Kaum verwunderlich, dass die Liste der arrivierten Künstlerinnen und Künstler, die seine Songs über die Jahre gecovert haben, ebenso lang, wie bunt ist: Von Tim Buckley über Bruce Springsteen, Bon Jovi (sic!), Rod Stewart (sic!!) und Bob Seger zu Diana Krall, Norah Jones, Holly Cole, Scarlett Johansson, Peter Gabriel und zuletzt Rebekka Bakken auf dem vorliegenden Album „Little Drop Of Poison“. Und dieses Album hat es wirklich in sich …

16 (auf der Deluxe-Edition sogar 18) Songs hat die norwegische Sängerin ausgewählt, die der Arrangeur Jörg Achim Keller für die Bigband des hessischen Rundfunks, eine der besten Adressen für moderne Bigband-Musik weltweit, kongenial bearbeitet hat. Dabei fielen die Arrangements so unterschiedlich und facettenreich aus, wie die Vorlagen von Waits selbst: Mal poetisch-kammermusikalisch, mal im satten New-Orleans-Sound, mal bluesig, mal mit einer großen Portion Swing. Dazu kommt die vielschichtige Stimme Rebekka Bakkens mit der deutlichen Diktion einer engagierten Geschichtenerzählerin, die mal croonert, mal faucht und kratzt, mal klagt, mal durch traurige Schönheit verzaubert..

Rebekka Bakken und ihren Mitstreitern der hr-Bigband ist das schier Unmögliche eines Cover-Albums gelungen: Sie haben den ureigenen Charakter der Songs nicht verändert und sie dennoch nicht schnöde 1:1 kopiert, sondern geistesverwandt neu erschaffen und so neue, bisher verborgene Aspekte herausgearbeitet. Rebekka Bakken erweist sich nicht nur als technisch brillante, sondern auch als außergewöhnlich wandlungsfähige Sängerin mit geradezu schauspielerischen Fähigkeiten.

Fazit: Dies ist eines der besten Cover-Alben, das ich in den letzten Jahren gehört habe. Ein Album für Tom-Waits-Aficionados und -Skeptiker, für Jazz-Fans und Freunde intelligenter und authentischer Songs.

 

Album-Preview bei Spiegel Online

Bisherige Rezensionen zu Rebekka Bakken auf schallplattenmann.de

Bisherige Rezensionen zu Tom Waits auf schallplattenmann.de

Rebekka Bakken in der Wikipedia

 

(Bild oder Foto: Networking Media)

Deep Purple „In Concert ’72“ (2012 Remix)

Deep Purple "In Concert '72"

Deep Purple [rating=3] Statt bombastischer Live-Atmosphäre, ein fast intimes Club-Konzert von Deep Purple. Fast.

Kaum eine andere Band verwaltet ihren (Back-)Catalogue so sorgfältig wie Deep Purple. Neben den heute üblichen zyklischen Remaster- und Remix-Runden der regulären Studioalben, die die Fans alle paar Jahre immer wieder zum Kauf ein und derselben Platte bewegen sollen (am besten mit obskuren Bonus Tracks), kümmern sich Deep Purple sorgsam um das vorhandene Live-Material, sei es um das offizielle, sei es um das halb-offizielle, das jahrelang gar nicht oder nur aus halbseidenen Quellen zu beziehen war.

Nur wenige Wochen vor der Veröffentlichung ihres sechsten Studioalbums „Machine Head“ (VÖ.: 25. März 1972) lud die BBC Deep Purple am 9. März zum exklusiven Radiokonzert (für die Reihe ‚Sound of the Seventies‘) ins Paris Theatre in der Lower Regent Street in London ein. Die Band nutzte den Gig, um das neue Album zu promoten und spielte es fast vollständig, darunter auch das berühmt-berüchtigte „Smoke on the Water“ zum allerersten Mal live. Der Club war klein und entsprechend ‚intim‘ war die Atmosphäre – naja, so intim wie halt Deep Purples Hardrock überhaupt sein kann.

Man merkt, dass die Band sich des vollen Potentials der neuen Songs (darunter auch solche Klassiker wie „Highway Star“, „Lazy“ und „Space Truckin’'“) noch nicht ganz bewusst ist, die nur einige Monate später im August in Japan so kunstvoll zelebriert werden sollten. Ausgerechnet „Smoke on the Water“ (man beachte bitte das leicht verblueste erste Riff!) kommt vielleicht etwas verhalten, ja von Gillan sogar etwas hüftsteif daher, in anderen Nummern duellieren sich Blackmore und Lord bereits auf höchstem Niveau nach bekannter Art und Weise. Außerdem enthält das Album die selten live gespielten Nummern „Never Before“ und „Maybe I’m a Leo“, letztere mit besonders beschwingtem Groove.

Der Sound des 2012 erstellten Remix (ursprünglich exklusiv für die Vinyl-Ausgabe des Albums) ist satt und druckvoll. Er transportiert die purer Energie, die die Band selbst bei solch einem ‚kleinen Gig‘ entwickelte, sehr gut. Mag sein, dass die Gruppe zu diesem Zeitpunkt schon inneren Spannung ausgesetzt war, der Chemie auf der Bühne tat dies keinen Abbruch.

Natürlich ist „In Concert ’72“ keine zweite „Made in Japan“ und kann das epochale Live-Album (das vor kurzem übrigens in einer tollen Deluxe-Ausgabe wiederveröffentlicht wurde) nicht ersetzen. Aber als sinnvolle Ergänzung, um Deep Purple auf dem Zenit ihres Erfolges mal von einer anderen, ‚intimeren‘ Seite kennenzulernen, taugt das Album allemal. Und sei es auch nur, um festzustellen, dass die legendäre Mk.II-Besetzung auch im kleineren Rahmen eine unglaubliche Power aufbauen konnte.

Bisherige Rezensionen zu Deep Purple auf schallplattenmann.de

http://www.deeppurple.com

(Bild oder Foto: Networking Media)

Sal’s Top Five · Sal’s Classics Top Five 2013

Erik Bosgraaf & Yuri Honing "Hotel Terminus" (200px)

Werde ich nun alt oder war 2013 wirklich kein Jahr der musikalischen Offenbarungen? Erik Bosgraaf & Yuri Honing Sicher, es gab auch dieses Jahr einige herausragende Einzelveröffentlichungen (die Listen meiner Kollegen und vielleicht auch meine bieten da – in aller Bescheidenheit – den einen oder anderen Anhaltspunkt), aber en gros habe ich mich 2013 furchtbar in der Pop- und Rockmusik gelangweilt. Viele Hypes, viel Sex, Füchse (!) ein paar interessante Comebacks (Black Sabbath, Deep Purple, QOTSA) aber in der Masse erschreckend wenig Substanz. Stattdessen schießen die Streamingdienste wie Pilze aus dem Boden und revolutionieren wieder einmal unsere Hörgewohnheiten – auf Kosten der Musiker, die von den neuen Modellen nicht profitieren können.

Und in der klassischen Musik? Da feierte man das Verdi- und Wagner-Jahr (zum jeweils 200. Geburtstag) mit bemerkenswert wenigen gelungenen Neuproduktionen und viel recyceltem Material. Fauré EditionStattdessen konnte man sich über eine Reihe schöner Neuproduktionen mit Musik des dritten Jubilars Benjamin Britten (zum 100-jährigen Geburtstag) freuen. Ansonsten gab es noch den Wegfall zweier bedeutender Traditionsfirmen, EMI Classics und Virgin Classics, zu beklagen. Fortan werden Back-Catalogue und die Vertragskünstler unter dem Label Warner Classics und Erato vertrieben. Ob das Einstampfen renommierter Traditionsmarken in Zeiten der Krise und Umstrukturierung sinnvoll war oder bloße Eitelkeit des aufkaufenden Majors Warner?

Wie dem auch sei: Hier meine bewährte doppelte Top-Five-Liste, eine mit klassischer Musik, eine mit Pop und Rockmusik.

Meine fünf Alben des Jahres: Pop und (Progressive) Rock in alphabetischer Reihenfolge:

  • [amazon_link id=“B00B5UBH42″ target=“_blank“ ]Erik Bosgraaf & Yuri Honing „Hotel Terminus“[/amazon_link] — Ein Alte-Musik-Blockflötist (Bosgraaf) und ein Jazz-Saxophonist (Honing) jammen mit einer Postrock-Band über Motive aus Bachs „Brandenburgischen Konzerten“. Das Ergebnis hat mehr vom Sound des späten Esbjörn Svensson Trio als von barocker Eleganz. Ach, wenn Crossover doch immer so gelänge …
  • [amazon_link id=“B00DB62558″ target=“_blank“ ]Goldfrapp „Tales of Us“[/amazon_link] — Nicht das Album, das man nach dem poppigen, radiotauglichen „Head First“ (2010) erwartet hätte, stattdessen wundervoll melancholische Songs, schlicht und eindrucksvoll umgesetzt.
  • [amazon_link id=“B00FLRG8TO“ target=“_blank“ ]The Opium Cartel „Ardor“[/amazon_link] — Der lang erwartete Nachfolger zum Debüt „Night Blooms“ (2009) enttäuscht nicht. Ein Album wie ein warmer Sommerabend: Augenzwinkernde Jugend und leise Melancholie …
  • [amazon_link id=“B00A3TFKB2″ target=“_blank“ ]t „Psychoanorexia“[/amazon_link] — Thomas Thielen, in arte „t“, ist mit diesem Album der bisherigen Höhepunkt in seinem Schaffen gelungen: ein vielschichtiges, stellenweise düsteres, stellenweise nachdenkliches modernes Progressive-Rock-Album.
  • [amazon_link id=“B00AQB2A3I“ target=“_blank“ ]Steven Wilson „The Raven That Refused to Sing“[/amazon_link] — Für viele das ultimative Progressive-Rock-Album der letzten Jahre: Geschickter Rückgriff auf den Sound der 1970er, düster inszeniert, perfekt produziert und mit Ausnahmemusikern eingespielt.

Meine fünf Alben des Jahres: Klassische Musik in alphabetischer Reihenfolge der Komponisten:

(Bilder: Brilliant Classics)

Hélène Grimaud „Brahms: The Piano Concertos“

Hélène Grimaud - Johannes Brahms: The Piano Concertos

[amazon_image id=“B00DEFW8YY“ link=“true“ target=“_blank“ size=“medium“ class=“alignleft“]Hélène Grimaud „Johannes Brahms: The Piano Concertos“[/amazon_image]

[rating=4] Grimauds Liebesgeschichte mit Johannes Brahms geht in die nächste Runde.

Hélène Grimaud ist eine schöne und eigenwillige Künstlerin. Beides lieben ihre Fans und gleichzeitig erleichtern diese Umstände (so scheint mir) nicht gerade ihren Stand bei den Kritikern. Zum einen, weil Kritiker (berechtigterweise) bei jedem Hochglanzcover einer Klassik-Sirene skeptisch werden, zum anderen weil sie die Grimaud interpretatorische Freiheiten nimmt, die in der heutigen ‚historisch-informierten‘ Klassikwelt nicht mehr erlaubt scheinen. Ihre Deutungen sind persönlich, ‚aus dem Bauch‘ heraus, mit einem eigenen Blick auf das Werk verbunden; Referenzaufnahmen (im Sinne von »so hat’s der Komponist intendiert«) wird man in ihrer Diskografie vergeblich suchen. In sich schlüssig sind Grimauds Deutungen aber allemal, wie sie mit ihrer aktuellen CD beweist, auf der sie sich den beiden Klavierkonzerten Johannes Brahms‘ gewidmet hat – übrigens nicht zum ersten Mal. Das erste Klavierkonzert nahm sie 1998 schon einmal auf, mit dem zweiten kämpfte die Brahms-Liebhaberin viele Jahre.

Nun also endlich beide Klavierkonzerte Brahms‘ auf einer CD, dabei sind beide höchst unterschiedlich: Das erste Konzert in d-Moll ist ein jugendlich ungestümes Werk aus dem Jahre 1859 (Brahms war noch nicht einmal 26 Jahre alt, als es uraufgeführt wurde). Ohne zu viel hinein interpretieren zu wollen, verarbeitete der junge Brahms darin den geistigen Verfall und den Tod seines Mentors Robert Schumann – und wohl auch seine unglückliche Liebe zu dessen Frau Clara.  Das zweite Konzert entstand über 20 Jahre später und wurde 1882 uraufgeführt. Brahms, längst zum reifen Komponisten herangereift, schrieb mit dem B-Dur-Konzert eine Art „Sinfonie mit Klavier‘. Hélène Grimaud unterstreicht den unterschiedlichen Grundcharakter der beiden Werke damit, dass sie die beiden Konzerte mit zwei unterschiedlichen Orchestern aufgenommen hat: Konzert No. 1 wurde mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eingespielt, No. 2 mit den Wiener Philharmonikern. Für die Kontinuität in den Deutungen sorgt nicht nur die Solistin, sondern auch der Drigient Andris Nelsons.

Wie nicht anders bei Hélène Grimaud zu erwarten war, sind es zwei sehr persönliche Interpretationen geworden. Referenzaufnahmen sind dies mit Sicherheit nicht (hier würde man sicher mit Sviatoslav Richter und dem Chicago Symphony Orchestra unter Erich Leinsdorf nichts falsch machen können), wohl aber sehr aufwühlende, romantische Deutungen mit berückenden Momenten. Aufnahmetechnisch steht mir das Klavier zu weit im Vordergrund, aber das mag auch eine Geschmackssache sein, Die französische Pianistin belebt mit ihren dezidiert romantischen Deutungen eine pianistische Tradition, die in den letzten Jahren fast völlig aus der Mode gekommen ist, die uns aber im vergangenen Jahrhundert die großartigsten Solisten beschwerte: Mut zur Individualität, Mut zur Emotionalität, Mut zur Romantik. Hélène Grimaud ist keine Pianistin für die (selbsternannten) Gralshüter des einzig wahren Interpretationsansatzes (wie auch immer die herrschende Meinung gerade aussieht), sie steht für einen geradezu schwelgerischen Individualismus. Und gerade bei Brahms ist sie dabei in ihrem ureigenen Element.

Bisherige Rezensionen zu Hélène Grimaud auf schallplattenmann.de
→ Johannes Brahms in der Wikipedia
Künstlerhomepage von Hélène Grimaud mit Bildern, Videos und Klangbeispielen

(Bild: Networking Media)