Schlagwort: Progressive Rock

Jethro Tull „A Passion Play (An Extended Performance)“

Jethro Tull "A Passion Play (An Extended Performance)"

Jethro Tull Artwork, Ausstattung: [rating=5] ||
Musik: [rating=5] Unterschätztes Progrock-Meisterwerk in definitiver Neuauflage.

Was zunächst in einem absoluten Desaster zu enden drohte, wurde dann doch noch zu einem phänomenalen Erfolg. Das sechste Studio-Album von Jethro Tull „A Passion Play“ (1973) landete trotz (oder gerade wegen?) gelinde gesagt chaotischer Umstände bei den anfänglichen Sessions auf Platz 1 der US-Charts. Mit seinem Stil definierte es in mancherlei Hinsicht den Progrock-Sound der 1970er Jahre und gilt Kennern als eines der ganz großen Alben der Prog-Diskografie, auch wenn sein Ruhm bis heute von den beiden Vorgängern „Aqualung“ (1971) und „Thick as a Brick“ (1972) überschattet wird. Das Album ist nun in einer erweiterten, von Steven Wilson neu gemischten Fassung erschienen. Neben dem eigentlichen Album enthält die Neuausgabe auch die verworfenen Château d’Hérouville-Aufnahmen, der chaotischen Vorgeschichte also. Doch der Reihe nach …

Wohl aus steuerlichen Gründen (so wird kolportiert) quartierten sich Tull im Château d’Hérouville bei Paris ein, um einen Nachfolger für das überaus erfolgreiche „Thick as a Brick“-Album einzuspielen. Es sollte den Vorgänger an Komplexität und an Anspruch übertreffen. Doch das Schloss, in dem zuvor Elton John und Pink Floyd erfolgreich gearbeitet hatten, erwies sich als in jeder Hinsicht äußerst problematisch: Neben massiven technischen Schwierigkeiten zu Beginn der Sessions gab es einen räumlich sehr begrenzten Wohn- und Schlafbereich für die Band (inklusive Gemeinschaftsschlafraum für Band und Bettwanzen) und als i-Tüpfelchen eine waschechte Lebensmittelvergiftung, verursacht vom Inhouse-Catering des ‚Château d’Isaster‘. Die Band brach die Zelte fluchtartig ab, kehrte nach Großbritannien zurück, erholte sich und kehrte nach einigen Monaten der Pause in die Morgan Studios in London zurück, um große Teile des Château-Materials zu verwerfen und stattdessen eine ganz neue Story zu entwerfen: A Passion Play.

Als „A Passion Play“ schließlich im Sommer 1973 erschien, war die Kritik alles andere als begeistert: Das Fehlen einer radiotauglichen Single mit eingängigen Hooklines, die insgesamt sehr komplexe und ineinander verwobene Musik und die düstere, teilweise surrealistische Geschichte um Entscheidungen, mit denen man nach dem Tod konfrontiert wird (!), passten wohl nicht so ganz zum Zeitgeist der lebensfrohen Seventies. Für die beinharten Tull-Fans entwickelte sich „A Passion Play“ hingegen zum regelrechten Kult-Album. Vor allem der Text ließ viel Raum für Spekulationen und Überinterpretationen.

Rückblickend findet man heute auf „A Passion Play“ vieles dessen, was den Progressive Rock definierte (und ihn bald später in Verruf bringen sollte): Komplexität, Virtuosität, rhythmische Verschachtelungen (zu denen man einfach nicht mehr tanzen kann) und kryptische Texte mit intellektuellem Anspruch, ganz so als ob man Techniken aus der klassischen Musik mit englischer Literatur auf Rock-Instrumentarium umsetzen würde.

Die Neuauflage präsentiert das Original-Album mit einem insgesamt etwas entschlackten Sounderlebnis und die ‚Château d’Isaster-Tapes‘ (wahlweise in 5.1 oder 2.0 Stereo) mit zusätzlichem Videomaterial auf den DVDs. Steven Wilson hat – in enger Absprache mit Ian Anderson – die eine oder andere Sax-Spur gelöscht und dafür den einen oder anderen willkürlichen Eingriff des Toningenieurs korrigiert. Das Ergebnis klingt für den Kenner des Originals stellenweise hörbar anders, was nicht unbedingt von jedem Fan goutiert werden muss. Wer damit nicht zurecht kommt, findet auf den Bonus-DVD einen ‚flat transfer from the original master at 96/24 PCM‘ im gewohnten Sound. Alleine das 80-seitige Booklet und die Raritäten machen den Kauf für jeden Fan zur Pflicht, wie gut, dass es Tulls ‚proggigstes‘ Album obendrauf gibt. Und wer tolerant genug ist, die (mit Anderson abgesprochenen) Änderungen am Master hinzunehmen, der erhält „A Passion Play“ in der bestmöglichen Form. Mit dieser Edition können die Fan-Spekulationen über die Rätsel des Albums auf jeden Fall weiter gehen.

→ Bisherige Rezensionen zu Jethro Tull auf schallplattenmann.de

(Bild: Networking Media)

Selim Lemouchi & His Enemies „Air Earth Spirit Water Fire“

[amazon_image id=“B00GJ5P7C6″ link=“true“ target=“_blank“ size=“medium“ class=“alignleft“]Selim Lemouchi & His Enemies „Air Earth Spirit Water Fire“[/amazon_image][rating=3] Unterhaltsame Mischung aus Ambient, Metal, Psychedelia und okkultem Geraune

Kunst nicht als Abbild der Welt oder der ‚Realtität‘, sondern als Gestaltung einer eigenen Wirklichkeit oder zumindest als ihre Interpretation. Das ist seit der Entstehung der künstlerischen ‚Moderne‘ ein gängiges Bild, dem auch der niederländische Musiker Selim Lemouchi anhängt: »For what is Art if not the manipulation of Reality into what the Artist wills it to be. What is Art if not Magic?« 

Zunächst scheinen Lemouchi and His Enemies dabei auf bekannte Bilder zurück zu greifen, wenn sie ihre Debüt-CD nach den vier Elementen plus dem Geist als immaterieller Ebene benennen und passend dazu fünf Titel einspielen. Anhängern des Black-Metal sind Lemouchi sowie dessen Schwester und Sängerin Farida bereits von der Metal-Combo mit dem programmatischen Namen „The Devils Blood“ bekannt. Nach drei CDs verkündete der Meister 2013 deren abruptes Ende und begründete dies mit seiner eigenen Transformation nach sieben Jahren. Die Suche nach »geistiger Klarheit und Stärke«, so lässt er uns im Pressetext wissen, sowie eine ungenannte »Macht des Schicksals« habe ihm den Weg gewiesen.

Nun gut, auf CD klagt im ersten Song eine Stimme, dass sie zwar alles für den Herrn gebe, sich aber nicht sicher sei, ob dieser überhaupt seinen Adepten und dessen Bemühungen wahrnehme. Handelt es sich etwa hierbei um eine Anrufung des ‚Fürst der Dunkelheit‘? Wir wissen es nicht, es ist letzten Endes auch bedeutungslos, denn was musikalisch folgt, ist entscheidend: Ein wilder Stilmix aus Metal, symphonischen Elementen, Bombast, Pathos, Gitarren, Synthesizern und tragendem Gesang sowie streckenweise etwas ziellosen Ambient-Klängen. Das mag auf die Metal-Gemeinde nachhaltig verstörend wirken. Lemouchi und seine ‚Feinde‘ kommen in den Festsaal der Rockmusik-Historie, wo Pink Floyd aus „Meddle“-Zeiten grüßen, Magma »Bonjour« sagen und Hawkwind aus dem Grab winken. Klassischer Prog als Einfluss also, aber zeitgemäß verarbeitet und mit eigenen Ideen zu einer faszinierenden Melange zusammengerührt.  Eine Prise Krautrock darf da auch nicht fehlen. Ein Ritt mit dem Teufel? Ach, das muss man wohl nicht ganz so ernst nehmen: »It’s only Rock’n’Roll«, nicht wahr?

Klang die Vorgängerformation mit ihren Hard- und Heavy-Rückgriffen bisweilen ziemlich „retro“, so hat die neue Formation das stilistische Spektrum deutlich erweitert. Heraus gekommen ist keine Magie, weder schwarze, noch weiße, sondern eine unterhaltsame, überwiegend gelungene Platte abseits der heute üblichen Genre-Schubladen.

Fazit: Noch ist der eigene künstlerische Kosmos Lemouchis nicht vollendet, aber auf dem Weg dorthin haben er und seine Mitmusiker mit „Air Earth Spirit Water Fire“ schon mal mindestens sieben Meilen zurückgelegt.

(Foto: Ván Records)

t „Psychoanorexia“

t - Psychoanorexia

t - Psychoanorexia

[rating=5]Progressive Rock – Moderner Progressive Rock von internationalem Format.

Gut Ding will Weile haben: Ganze vier Alben hat Thomas Thielen, in arte „t“ (der wohl unglücklichste Künstlername für Suchmaschinen ever!) in elf Jahren veröffentlicht. Der Sänger und Multi-Instrumentalist aus Hannover ist ein perfektionistischer Tüftler, der seine komplexen Songideen mit viel Sorgfalt umsetzt – und das braucht Zeit.

Sein vor einigen Wochen erschienenes viertes Album „Psychoanorexia“ ist der bisherigen Höhepunkt in seinem Schaffen – und zwar in vielerlei Hinsicht: Im Laufe der Jahre hat t gelernt mit seinen stimmlichen Möglichkeiten, genauer gesagt seinem Timbre, besser umzugehen (was viele andere Kritiker bei ihm immer wieder bemängelten, was für mich aber nie ein ernsthafter Kritikpunkt war – Geschmackssache halt). Auf dem neuen Album wirken seine Kompositionen aus- aber nicht überkomponiert, es entstehen keine unnötigen Längen, dafür Tiefen, die man erst nach und nach beim Zuhören entdeckt. Speziell auf dem Vorgänger „Anti-Matter Poetry“ hatte ich (bei allem Respekt) hie und da den Eindruck, dass t seine Progressive-Rock-Wurzeln zu kaschieren versucht: Nun, Schablonen und Stereotypen sind wohl für die wenigsten Künstler wirklich wünschenswert. Ich hatte den Eindruck, dass t sich vielleicht einen Tick zu sehr müht, dem uncoolen Progger-Image zu entkommen und eher den coolen, modernen Postrocker in sich kultiviert.  Nun geht er deutlich unverkrampfter mit seinen musikalischen Vorbildern aus den 1970ern und 1980ern um, wobei die Anklänge stets subtil und vom typischen Retro-Plagiat weit entfernt bleiben. ‚Uncool‘ ist das immer noch nicht, im Gegenteil: Das Album könnte sogar Hörer ansprechen, die normalerweise um die üblichen Prog-Klischees einen großen Bogen machen.

„Psychoanrexia“ enthält im Ergebnis vielschichtigen, stellenweise düsteren, stellenweise nachdenklichen modernen Progressive Rock mit mal aggressiven, mal poetischen Unterklängen. Ein persönliches, intensives, kryptisches und exzellent klingendes Album, gewiss nicht für jedermann, dafür sind ts Klangwelten zu individuell ausgeprägt, wohl aber für den Hörer, der nicht alles auf Anhieb verstehen und mitträllern muss, um sich auf ein Album einzulassen.

auf Youtube

t „Anti-Matter Poetry“ auf schallplattenmann.de

Offizielle Website

(Cover: t)

Storm Corrosion „Storm Corrosion“

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Soundtrack? Avantgarde? Keine Schublade passt.

Storm Corrosion ist das Gemeinschaftprojekt von Steven Wilson von Porcupine Tree und Michael Åkerfeldt von Opeth. Beide kennen sich schon länger von ihrer Zusammenarbeit bei einigen Opeth-Alben, an denen Wilson als Produzent beteiligt war. Opeths letzter Output war das retro-rockige „Heritage“, Wilson veröffentlichte zuletzt das Doppel-Soloalbum „Grace For Drowning“. Wilson selbst sieht „Storm Corrosion“ im Kontext dieser Alben (an „Heritage“ wirkte er auch als Produzent mit), dabei sind die Ähnlichkeiten zu seinem Solowerk deutlicher als zu den Metallern von Opeth.

„Storm Corrosion“ ähnelt sehr einem Soundtrack, das Video zu dem Opener „Drag Ropes“ wurde mit einer Scherenschnitt-Geschichte untermalt. Sechs Lieder verteilen sich auf etwa 50 Minuten; gefühlte Prog-Rock-Dimensionen. Ein klassisches Schlagzeug findet man aber gar nicht, Streicher und Flöten übernehmen wichtige Funktionen beim Aufbau einer teilweise gefährlich anmutender Stimmung. Hier und da blitzt mal ein Gitarrensolo auf, aber das Album wird dominiert von sich langsam aufbauenden atmosphärischen Strukturen.

Das Titellied beginnt zum Beispiel als ruhiges Akustikstück mit einem magischen Gesang von Wilson und einem tollen Gitarrensolo, muss aber vor dem Ende einen nervenaufreibenden Noiseteil einbauen. Das abschließende „Ljudet Innan“ verbreitet dagegen eine dichte und rhythmische Ruhe und ist trotz der Länge eines der kohärentesten Stücke.

Insgesamt ein schwer zugängliches, ruhiges aber komplexes Album, das manchmal eher wie die Summe der einzelnen Teile wirkt. An vielen Stellen kann es aber durchaus mit tollen Ideen unterhalten.

Opeth „Heritage“
Porcupine Tree „Fear Of A Blank Planet“
Storm Corrosion – „Drag Ropes“ – Video bei tape.tv
http://stormcorrosion.com/