Schlagwort: Electronica

Get The Blessing „Bristopia“

[rating=4] Jazz – Jazz + Funk + Postrock + Trip-Hop + Electronics = Get The Bleesing.

Das Spannende an der aktuellen britischen Jazz-Szene ist, dass sie zu so vielen unterschiedlichen Ergebnissen kommt, die alle einen gemeinsamen Nenner haben: höchste musikalische Qualität. In Bristol, einst von Journalisten zur „Hauptstadt des Trip-Hop“ gekürt, gründete sich bereits 1999 das Quartett Get The Blessing. Ihre Musik fasst Elemente des Jazz, des Postrock und des Trip-Hop zusammen, vermischt akustische und elektronische Sounds und setzt dabei traditionelle Solo-Instrumente des Jazz, Trompete (Pete Judge) und Saxophon (Jake McMurchie) ein. Jim Barr am Bass und Clive Deamer an den Drums bereiten dafür das rhythmische Fundament. Die beiden sind keine Unbekannten: In derselben Funktion stehen sie auch mit Portishead auf der Bühne.

Get The Blessings siebtes Album „Bristopia“ zeigt das Quartett in Hochform. Die elf Tracks pulsieren energiegeladen und rhythmisch strukturiert, gleichzeitig mangelt es nicht an freien, improvisatorischen Sequenzen. Dabei wildern die vier selbstbewusst quer durch die Musikwelt. Es ist schon hauptsächlich Jazz, was sie auf dem Album bieten, aber mit der lässigen Attitüde einer Rockband und mit dem wohlüberlegten Einsatz von Sounds und Rhythmen aus verwandten und fernen Genres. Mitunter ist das Ergebnis sogar tanzbar (Huch!), es gibt aber auch immer wieder ruhige Momente. Für zusätzliche Akzente an der Gitarre sorgen Adrian Utley von Portishead und die Pedal-Steel-Gitarristin Margerethe Björklund.

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Das Album erscheint als CD, als Download und als limitierte LP auf orangefarbenem Vinyl, eine Augenweide und klanglich ebenso erhaben wie die digitalen Formate. Leider hat man bei der Vinyl-Ausgabe auf einen Download-Code verzichtet. Den erhält man allerdings, wenn man das Album auf der Bandcamp-Seite des Quartetts bestellt.

→ Get The Blessing Homepage

Get The Blessing auf bandcamp.com (mit Streaming- und Bestellmöglichkeit)

(Coverbild: Get The Blessing auf bandcamp.com; Vinyl-Bilder: Salvatore Pichireddu)

Ammar 808 „Maghreb United“

Kein TR-808 kam für dieses Album zu Schaden, vermerkt Ammar 808 auf der Albumrückseite ironisch. Anders als dressierte Affen kann man das kultige Rhythmusgerät aus den 80er-Jahren ohnehin nicht quälen. Und das macht er auch mit den Hörorganen nicht. Denn auch wenn seine Musik dringlich und tranceverdächtig ist: Die treibenden Rhythmen, die der tunesische Musiker aus seinem TR-808 holt, klingen grummelig warm, die Stimme ist stimulierend und das kollektive Händeklatschen feuert zusätzlich an.
Ammar 808 verschwistert unterschiedliche Musik des Maghreb – algerischen Raï, Gnawa aus Marokko und tunesische Targ-Musik – mit dem TR-808. Mit dabei: die Sänger Mehdi Nassouli (Marokko), Sofiane Saidi (Algerien) and Cheb Hassen Tej (Tunesien) und traditionelle Instrumente wie die Kastenhalslaute Gumbri, Gasba-Flöten (die arabische Form der Ney) und der tunesische Zukra-Dudelsack.
Der Auftakt, „Degdega“, ist ein Versprechen – der Rest ist Erfüllung. Die Trennlinie zwischen Tradition und Moderne ist nicht offenkundig. Einerseits klingen die Stücke mit ihren traditionellen Elementen – dem Klang der Instrumente, auch wenn die Gumbri bereits elektrifiziert ist, oder dem Wechsel zwischen Hauptsänger und Chorgesang –, als seien sie bei einem riesigen Freudenfest in einem Gebirgsdorf hoch oben im Sahara-Atlas aufgenommen worden. Gleichzeitig ist die so natürlich wirkende Musik von Ammar 808 wie geschaffen für fiebrig durchtanzte Nächte in den Clubs der westlichen Metropolen.

(Foto: Glitterbeat)

Uwe Schütte (Hrsg.) „Mensch – Maschinen – Musik“

Als Kraftwerk 2012 ins New Yorker Museum of Modern Art (Moma) eingeladen wurde, konnte man durchaus unken, dass die deutsche Band damit endgültig museal sei – und folglich auch ein Fall für das Archiv. Tatsächlich möchte man die Arbeitsmaterialien und Requisiten der Band so wenig dem Verfall preisgeben wie die Manuskripte von Franz Kafka. Und bei der Präsentation im Museum ist die Form der Darstellung entscheidend. Ralf Hütter als in der Band verbliebener Gründer (das zweite Gründungsmitglied Florian Schneider ist 2009 ausgeschieden) hatte nämlich schon im Jahr vor den Moma-Auftritten mit der 3D-Videonistallation im Münchner Lenbachhaus deutlich gemacht, dass er Kraftwerk nicht in den Archiven verstauben lassen, sondern mit neuen Ansätzen lebendig halten möchte.

Die Moma-Konzertreihe wurde in Museen anderer Länder wiederholt. Der Literaturwissenschaftler und Musikjournalist Uwe Schütte initiierte 2015 in Birmingham und Düsseldorf (im Umfeld der Konzerte in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) wissenschaftliche Konferenzen und legt nun eine umfassende Bestandsaufnahme zum – wie es im Untertitel heißt – „Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ vor.
Er geht dabei chronologisch vor und lässt seine Gastautoren Aspekte der jeweiligen Phasen beziehungsweise Alben beleuchten. Das reicht vom Frühwerk im Krautrock-Kontext über die einzelnen Alben („Autobahn“, „Radio-Aktivität“, etc.) bis hin zum „Katalog-Komplex“, der Zusammenfassung der acht Kraftwerk-Alben (2009) und zur späteren 3D-Retrospektive (2012).
In einem zweiten, „Diskurse“ genannten Teil dieser „Kraftwerkstudien“ geht der Band Themen wie den Texten der Gruppe, ihren Sound-Topographien oder der internationalen Ausstrahlung auf den Grund.

Die in „Mensch – Maschinen – Musik“ präsentierten Themen sind naheliegend. Die Texte erheben wissenschaftlichen Anspruch, sind dabei jedoch überwiegend so geschrieben, dass auch interessierte Nicht-Akademiker nur gelegentlich Wortbedeutungen nachschlagen müssen. Ohnehin sind nicht alle Analytiker dem akademischen Ansatz verpflichtet. (Ja, Analytiker: Die Kraftwerk-Analyse ist fest in männlicher Hand, nur zwei von 15 Texten stammen von Frauen.) Der Sammelband ist auf die Würdigung der deutschen Elektroniker angelegt. So mancher Text legt nahe, dass kritische Punkte ausgeblendet wurden. Der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl wählt gleich den vertrauten journalistischen Ansatz und führt in seinen Text zum Album „Tour de France“ ungeachtet des mangelnden Erkenntnisgewinns damit ein, dass er wegen einer Hüftarthrose zwar wie Ralph Hütter Fahrrad fährt, jedoch nur Mountainbike.
Dass es auch besser geht, zeigt Ulrich Adelt. Der Dozent für amerikanische Literatur und Autor eines Buches über Krautrock verdeutlicht, dass Kraftwerks Frühwerk eine „Geschichte des gezielten Vergessens“ ist, um den Mythos zu pflegen, dass die Band mit „Autobahn“ (1974) aus dem Nichts gekommen sei. Und Eckhard Schumacher, Germanist mit Arbeitsschwerpunkt Gegenwartsliteratur und Pop, weist darauf hin, dass man die Kraftwerk-Geschichte der 80er-Jahre zwar als Erfolgsgeschichte lesen kann – die Gruppe aber nach mit den Alben „Autobahn“ und „Computerwelt“ den Zenit überschritten hatte und „es danach eher bergab ging“. Dafür wurde in dieser Phase die Flamme, die Kraftwerk in den 70er-Jahren entzündet hatten, von anderen weitergetragen – indem sich die New Romantics diesseits und Afrika Bambaataa jenseits des Atlantiks auf das deutsche Quartett bezogen.

Ob beabsichtigt oder nicht: Jede Auseinandersetzung mit der Band, jeder Beitrag zum Thema Kraftwerk – nicht nur in diesem Band – fördert die Mythologisierung der Gruppe. Beiträge, in denen der Fan spricht, werden eher eine kürzere Halbwertszeit haben als solche, die aus einer objektiveren Perspektive verfasst wurden. Doch darf man die Heterogenität der Texte als willkommene Abwechslung deuten – und als Ganzes betrachtet ermöglicht diese Bestandsaufnahme Kraftwerk-Eleven einen umfassenden Einstieg und Kennern eine fundierte Vertiefung mancher Aspekte der Band, die seit einigen Jahren viel unternimmt, um über den sicheren Platz im musikalischen Kanon hinaus ein fester Bestandteil der Kunstwelt zu werden.

Bisherige Rezensionen zu Kraftwerk auf schallplattenmann.de

(Foto: C.W.-Leske-Verlag)

Naked in English Class „Selfing“

[rating=3] Alte Songs im Geist von gestern – schräg und poppig

Naked in English Class ist die Coverband von Olifr M. Guz, dem Kopf der Schweizer Indie-Band Aeronauten, der sich auch als Solo-Künstler beträchtliche Meriten verdient hat. Gemeinsam mit Taranja Wu nimmt er sich Songs alter Haudegen vor. Manche, etwa The Sonics, sind nur noch Nischenliebhabern ein Begriff. Von anderen wird der Name durch Coverversionen am Leben erhalten. Das gilt zum Beispiel für Vince Taylor, von dessen „Brand New Cadillac“ viele meinen, er sei von The Clash. Oder „I’m Gonna Find A Cave“: Den Song des US-amerikanischen Sängers und Komponisten James Radcliffe verbindet man mit der britischen Rockband The Sorrows.
Zur Sammlung kommen auch Stücke von Outcasts wie Billy Childish und weitaus bekannteren Künstlern, etwa Iggy Pop und die B52’s.

Das Duo hat also Geschmack und Durchblick – und das Ergebnis ist wesentlich besser, als man es bei einer Band dieses Namens erwartet. „Throw That Beat In The Garbage Can“ (B52’s) wird zur rustikalen Elektropop-Nummer, die auch von den Eurythmics stammen könnte. Auch „Psycho“ (ursprünglich ein Rock’n’Roll-Song von The Sonics) passt mit seinem simplen, treibenden Beat und seinem fröhlichen Gesang in die 80er-Jahre-Elektropop-Schublade, hier allerdings eher im Stil von Les Rita Mitsouko oder Soft Cell. „Gimme Danger“, das Rock-Stück von Iggy Pop & The Stooges, das Naked in English Class schon auf einem früheren Album interpretiert haben, inszenieren sie auch dieses Mal düster und abgründig.
Die Coverversionen von Naked in English Class sind deutlich im Geist von Olifr M.Guz entstanden, dessen Aeronauten seit jeher gerne die Rohheit der Art brut – oder des Punk – mit schmissigen, ‚catchy‘ Melodien verbinden. Insofern ist das Album im doppelten Sinn retro: alte Stücke mit dem noch immer lebendigen Geist von gestern interpretiert.

Bisherige Rezensionen zu Guz auf schallplattenmann.de und im Blog

(Foto: Ikarus Records)

Diagrams „Dorothy“

Kann in andere Sphären tragen [rating=4]

Die Diagrams sind weniger eine richtige Band als vielmehr ein Projekt von Sam Genders. Jener ist wiederum seit Jahren in der englischen Musikszene mit obskuren Bands wie Tunng, The Accidental oder Throws aktiv. „Dorothy“ ist das dritte Album der Diagrams seit 2012. Entstanden ist es mit Hilfe von Crowdfunding und gefördert wurde es von Institutionen des britischen Kulturbetriebs. Genders war bislang in musikalischen Nischen unterwegs wie Electronic Folk oder Folktronic. „Dorothy“ bleibt diesem hybriden Genre treu, erweitert aber den Horizont durch die Zusammenarbeit mit Dorothy Trogden, einer neunzigjährigen amerikanischen (Hobby-)Dichterin und ehemaligen Architektin. Sie hat die Texte aller neun Titel des Mini-Albums (Spieldauer 29 Minuten) verfaßt. Deren Horizont reicht von „Everything“ über das „Motherboard“ bis zu „Under the Graphite Sky“. Der letztgenannte Text eröffnet das Album „Dorothy“ als Song und beschließt es als von Trogden rezitiertes Gedicht.
Dorothy Trogdens Texte sind versponnene, verträumte Beobachtungen über Beziehungen, das Leben, die Wissenschaft oder den Wechsel der Jahreszeiten, die von Sam Genders und seinen Mitstreitern kongenial vertont werden. Text und Musik sind leicht entrückt und schaffen – trotz der Kürze des Albums – einen eigenen, nahezu vollständigen Kosmos, eine athmosphärische Parallelwelt, die verzaubert.
Obwohl Genders Stimme in ihren Ausdrucksformen und Möglichkeiten limitiert ist, gereicht dies den kurzen Songs nicht zum Nachteil. „It’s only Light“ fängt ganz schlicht mit einer akustischen Gitarre und Genders Stimme an und wird dann behutsam mit Bläsern, Streichern und elektronische Effekte angereichert. Hinzu kommen eingefangene Geräusche aus der Umgebung von Orcas Island, Trogdens Wohnort in Washington State. Dies zeigt die Vielschichtigkeit der Produktion. Es entsteht dabei keine Soundcollage, sondern ein homogener Klang. Das Ergebnis ist wichtig, nicht die Zutaten. „I tell Myself“ erinnert zu Beginn ein wenig an die frühe Laurie Anderson, „Dorothy“ hingegen entfernt an englische Singer/Songwriter. Solche Reminiszenzen dauern aber nur Augenblicke, dann sind Genders und seine Mitstreiter wieder ganz bei sich. Ein Besuch dort lohnt.

(Cover: Rough Trade)

Parov Stelar „The Burning Spider“

[rating=2] Geschmackvolle Song-Auswahl, jedoch nicht dauerhaft reizvoll

Marcus Füreder alias Parov Stelar ist ein umtriebiger Mann. Seit Anfang der 2000er-Jahre  gelingt es ihm, seine Version des Samplings als DJ, Musiker und Produzent unter die Leute zu bringen. Geholfen hat dabei sicherlich die Auswahl der Sounds und Songs, die Füreder be- oder verarbeitet. So auch im aktuellen Album „The Burning Spider“.
Das gleichnamige Auftaktstück lebt wesentlich von der ‚mojo hand‘ des Bluesers Lightnin‘ Hopkins, der hier mit allerlei elektronischen Arrangements, Bläsern und anderen Zutaten aus der Trickkiste des modernen Produzenten zeitgemäß aufgearbeitet wird. Puristen kann so etwas zwar nicht gefallen, aber die greifen ohnehin nicht zu den CDs von Parov Stelar.
Zwischenfazit: Man kann einen guten Song kaum kaputt machen, und als Basis eines Samples ist dieser nicht zu ersetzen. Schlimmstenfalls erscheinen – wie hier – die neuen Zutaten überflüssig, aber Parov Stelar beweist immerhin Geschmack.
Irritierend erscheint dagegen der Stimmungswechsel im zweiten Titel, „Step Too“. Auch hier mischt, wie bei fast allen Stücken, Parov Stellar den Gesang von Interpreten wie Anduze, Muddy Waters, Stuff Smith und Mildred Bailey mit neuen Sounds ab. „Step Too“ – mit Lilja Bloom – wird so zu einer Art tanzbarer Eurodisco.

Betrachten wir das Vorgehen Füreders als Arbeit eines DJ, der eine bestimmte Klanglandschaft erzeugen möchte, macht die Sache dennoch Sinn. Insofern wirkt „The Burning Spider“ wie der Mitschnitt eines DJ-Sets aus einem angesagten Club im urbanen Irgendwo, den der Käufer nach Hause nehmen kann. Zwischen einem Häppchen Blues hier, Disco dort, einem bisschen Jazz, Karibik-Feeling, Gypsy-Swing und Soul-Stimmen soll sich eine Art globaler, tanzbarer Sound entfalten.
Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Prager Café in der Altstadt am frühen Abend, wo uns ein freundlicher Hipster eine gute Tasse des schwarzen Goldes servierte. Draussen tummelten sich wie in Euro-Disney-Land zahllose gut gelaunte junge Leute von Überallher, drinnen sassen wir und trübten das Bild ein bisschen. Auf dem Monitor lief ein Video. Es war von Parov Stellar und zeigte alte Schwarz-weiß-Aufnahmen tanzender Paare, zu hören gab es Electro-Swing.
Das umschreibt den Klangkosmos und den sozialen Background dieser Musik ganz gut. Authentizität ist hier völlig deplaziert, alles mischt sich potentiell mit allem, 50er-Jahre-Electric-Blues aus Chicago mit Gypsy-Klängen und elektronischen Soundeffekten. Hört man „The Burning Spider“ wie ein etwas kurioses Radioprogramm ohne klares Format, kann die Platte – wenn auch nicht allzu oft – durchaus ihre Reize entfalten. Und die Auswahl der Songs und Interpreten spricht durchaus für guten Geschmack.

Bisherige Rezensionen zu Parov Stelar auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Parov Stelar

 

(Cover: Warner Music)

Palace Winter „Waiting for the World to turn“

TAMB138DA_rgb_web[rating=3]Gelungener Einstand

Debüt des australisch-dänischen Duos, das bereits mit seiner EP „Medication“ aus dem Jahre 2015 eine gewisse Aufmerksamkeit für seinen verspielten Psychedelik-Sound erzeugte. Carl Coleman und Caspar Hesselager gehen dabei erneut clever vor. „Dune Wind“, der Eingangstitel zieht einen mit seinem Piano, den Synthies, der langsam einsetzenden Gitarre und dem wie verweht wirkenden Gesang geradezu in den Klangkosmos von Palace Winter. Das ist Absicht, wie Hesselager bekennt: Er wolle den Hörer in die weite, luftige Klanglandschaft locken und dann eine Weile darin festhalten. Dieser Dünenwind erinnert an Krautrock, Psychedelia und Pop und fesselt durch das Songwriting. Der Text handelt, soweit verständlich, von Erwartungen oder eben einfach davon, dass man auf etwas wartet. Hatte sich der Hörer gerade in der endlosen Weite des Raumes eingerichtet, überfällt ihn mit „Hearts to Kill“ ein irgendwie klaustrophobisches Klanggewirr aus übereinandergelegten Gitarren- und Synthesizerschichten. Eine Reise lebt halt von Kontrasten und verschiedenen Eindrücken. Deshalb bietet Titel Nummer Drei,“Positron“, diese in hohem Maße. Mit seinem Piano, der treibenden Gitarre mit starken Anklängen an die Sechziger fast überdreht, schlägt etwa in der Mitte die Stimmung um, der federnde Rhythmus wird plötzlich stark verlangsamt und der Sänger setzt aus. „Positron“, so die Musiker, beschreibe als Begriff ein hyperaktives Individuum an der Grenze zur Hysterie, eine Art bipolares Muster zwischen Depression und Überschwang.

Kennengelernt haben sich die Beiden übrigens 2013 auf einer Tour durch Dänemark, als die Band The Rumour said Fire, bei denen Hesselager als Keyboarder spielt(e) von Coleman begleitet wurden. Daraus erwuchs die Idee zum Projekt Palace Winter.
Beide haben eine Vorliebe für gute Melodien, leicht versponnene Texte, perlende Gitarren und flächige Synthesizer. Ein gutes Beispiel dafür ist „Soft Machine“, ein Song, der alles das aufs trefflichste bietet, obendrein luftig daher kommt und gedankliche und räumliche Weite entstehen lässt. Palace Winter können aber auch einfach Pop, wie sie mit dem radiotauglichen „HW Running“ beweisen. Doch dauerhaft können und wollen Palace Winter nicht dem Uptempo-Fröhlich-Sound frönen. Daher kommt mit „What Happend?“ gleich anschließend ein Midtempo-Song, der vom Selbstmord eines Nachbarn der Beiden handelt. Das ernste Thema offenbart sich nicht sofort, da das Ganze mit dem Klang von 80er-Jahre-Synthies bitter-süß daherkommt. „Proclamation Day“ stellt erneut das Songwriting und das E-Piano heraus, zieht sich jedoch etwas in die Länge. Definitiv lang ist der Doppeltitel, mit dem „Waiting for the World to turn“ schließt. „Dependance“ ist eine Ballade, eine Fahrt durch eine dunklen Tunnel („My Dependance of you frightens me/What if they took you away“), die „Independance“ dynamisch aufnimmt und aus dem dunklen Gefühlstunnel wieder hinausführt.

(Foto: Tambourhinoceros)

CTM „Suite For A Young Girl“

[rating=3]ctm[rating=?] Anklänge an Progressive-, Jazz- oder Postrock wirken wie Wegweiser im unbekannten Terrain.

CTM ist die Abkürzung von Caecilie Trier Music. Die Dänin ist Cellistin, Sängerin und Komponistin, „Suite for a young Girl“ ist ihr zweites Mini-Album. Acht kurze Titel, knappe zwanzig Minuten Musik. Zu hören gibt es Klänge, die zwischen Ambient, Avantgarde, Electronic, Jazz und Klassik changieren. Ein guten Eindruck vermittelt der erste Titel, „Return of the Hunters“. Cello-Klänge werden von orchestralen Synthesizer-Sounds abgelöst, Wasser plätschert, eine Gitarre wird beiläufig gezupft. Kein Anfang, kein wirkliches Ende, keine Melodie, keine offensichtliche Struktur. Es muss eine ziemlich seltsame, versponnene junge Dame sein, für die Ms. Trier aufspielt. Angeblich dachte die Künstlerin bei dem Titel an Breughels Gemälde „Heimkehr der Jäger“ aus dem Jahr 1565, auch bekannt unter dem Titel „Die Jäger im Schnee“. Dort sehen wir Männer und ihre Hunde, die kurz vor Einbruch der Dunkelheit von einer ziemlich erfolglosen Jagd zurückkehren, in einer karg winterlichen Landschaft. Mensch und Tier sind gleichermaßen erschöpft. In den kahlen Bäumen sitzen Raben, während unten im Dorf die anderen Bewohner auf dem vereisten Dorfteich dem Wintersport frönen.
„The Way a Mouth is a Mouth“ überrascht mit Gesang, wie auch „Cezanne“, der den Pop-Hörgewohnten schon eher schmeichelt. Das klingt jedoch weniger anstrengend, als man vermuten könnte. Um an „Suite For A Young Girl“ Gefallen zu finden, sollte man eine gewisse Neugierde auf Dinge mitbringen, die nicht gerade naheliegen. „La Mer“ wiederum könnte durchaus als eine Art reduzierter Kunst-Pop durchgehen, wie man ihn von den späten Talk Talk kennt. Diese hatten jedoch ihr eigenes Universum.

Caecilie Trier verfügt über eine angenehm dunkle Stimme, aber bisweilen beschlich mich der banausische Gedanke, sie möge doch einfach einmal still sein und nur die Musik sprechen lassen. Wollte und muss sie natürlich nicht. Beeindruckend sind der Stilwille und der Hang zum Gesamtkunstwerk allemal. Spontanität sollte man daher nicht erwarten, Humor ist auch nicht gerade die Stärke der jungen Dame. Ihre Musik wirkt getragen und ernst. „Rhythm of Rally“ geht in der ersten Minute beinahe als ambitionierter Pop durch, verklingt dann jedoch in Lautmalerreien. Ähnliches, wenngleich ausufernder, kennen wir noch aus der hohen Zeit progressiver Musik.
Auf „Suite For A Young Girl“ fehlt alles, was Popmusik in der Regel ausmacht – Melodie, Rhythmus, ein eingängiges Thema sowie Texte, die sich zwischen Liebe und Schmerz bewegen. In diesem Sinne liefert CTM ein karges,radikales Werk, das immer wieder konventionelle Anklänge aufnimmt, wie im abschliessenden Song „Escorted/The Road“, der – wenngleich in einer anderen Stimmlage – zart an Joni Mitchells große Jazzrock-Zeit erinnert.

Lymland „Rymdar“

lymland_rymdar_artwork[rating=3]Filmmusik ohne Film, oder: Klänge, welche die Imagination des Hörers beflügeln sollen.

Es ist durchaus ambitioniert, was das junge schwedische
Duo Lymland hier auf seinem zweiten Album „Rymdar“ zum Besten gibt. Sonja Perander und Jerker Kaj verzichten dabei auf
Gesang und allzu plakative Elemente, sondern setzen mit Synthies, Piano, Gitarren und unterstützenden weiteren Instrumenten wie Glockenspiel, Trompete und Cello auf ruhige, fließende Klänge. Beinahe könnte man an Minimal-Sound denken oder Brian Enos „Music for Airports“. Die neun Titel strahlen Harmonie und Ruhe aus und bilden in ihrer Gesamtheit einen reizvollen, ruhigen Klangfluss.

Das kommt einfach und ohne großes Programm daher und weckt, die an lange filmische Einstellungen von Naturmotiven denken lassen. Tatsächlich bezieht sich das Duo auf die Filme des schwedischen Regisseurs Roy Anderson, deren Kenntnis für den Hörgenuss jedoch nicht unerlässlich ist.
Obwohl in den einzelnen Stücken nichts wirklich Spektakuläres passiert, dringen die eher sanften Klänge aufs Angenehmste ins Ohr, um sich durch die Gehörgänge ins Gehirn fließend und warm zu verbreiten. Daher sind die einzelnen Titel eher als Teil eines größeren Ganzen gedacht, das Momente der Entspannung und Ruhe im großstädtischen Gewusel erzeugt.

Programm-Musik also? Vielleicht – aber nicht, um Wohlfühlatmosphäre für Konsumenten in Shopping-Centern zu erzeugen, sondern vielmehr um dem unablässigen Strom an hektischen Sinnesreizen für die Dauer eines Albums zu unterbrechen. Das gelingt gut. Und obwohl sie nicht auf Dramatik setzt, propagiert die Band auch nicht die reine Idylle. Mit bewusst einfach gehaltenen Stücken bietet das Dzo mit gelegentlichen Störgeräuschen durchsetzte Harmonie. In seiner Konsequenz über die gesamte Länge eines Albums kann man diesen Ansatz beinahe schon radikal nennen.

Trotzdem das bestimmende Element der Kompositionen Wiederholungen mit langsamen Veränderungen sind, zeigen Sonja Perander und Jerker Kaj auch, dass sie ein Händchen für Melodien haben. Die beiden Musiker sehen aus wie Hipster, kleiden sich wie Hipster und machen demnach also Musik für Hipster? Nicht ganz: Der Spaß, der sich einstellt, wenn man sich auf Konzept und Klang einläßt, erfordert weder Coolness noch Stilbewußtsein – und schon gar keine Abgrenzung von allem möglichen. Neugierde und Offenheit reichen. Nicht jeder Moment auf „Rymdar“ überzeugt; aber alles in allem verdient diese sympathische junge Band viele Zuhörer. Und wir Hörer wiederum haben bei all dem hektischen Gedudel, das aus vielen Lautsprechern klingt, auch mal eine angenehme Unterbrechung verdient.