Ammar 808 „Maghreb United“

Kein TR-808 kam für dieses Album zu Schaden, vermerkt Ammar 808 auf der Albumrückseite ironisch. Anders als dressierte Affen kann man das kultige Rhythmusgerät aus den 80er-Jahren ohnehin nicht quälen. Und das macht er auch mit den Hörorganen nicht. Denn auch wenn seine Musik dringlich und tranceverdächtig ist: Die treibenden Rhythmen, die der tunesische Musiker aus seinem TR-808 holt, klingen grummelig warm, die Stimme ist stimulierend und das kollektive Händeklatschen feuert zusätzlich an.
Ammar 808 verschwistert unterschiedliche Musik des Maghreb – algerischen Raï, Gnawa aus Marokko und tunesische Targ-Musik – mit dem TR-808. Mit dabei: die Sänger Mehdi Nassouli (Marokko), Sofiane Saidi (Algerien) and Cheb Hassen Tej (Tunesien) und traditionelle Instrumente wie die Kastenhalslaute Gumbri, Gasba-Flöten (die arabische Form der Ney) und der tunesische Zukra-Dudelsack.
Der Auftakt, „Degdega“, ist ein Versprechen – der Rest ist Erfüllung. Die Trennlinie zwischen Tradition und Moderne ist nicht offenkundig. Einerseits klingen die Stücke mit ihren traditionellen Elementen – dem Klang der Instrumente, auch wenn die Gumbri bereits elektrifiziert ist, oder dem Wechsel zwischen Hauptsänger und Chorgesang –, als seien sie bei einem riesigen Freudenfest in einem Gebirgsdorf hoch oben im Sahara-Atlas aufgenommen worden. Gleichzeitig ist die so natürlich wirkende Musik von Ammar 808 wie geschaffen für fiebrig durchtanzte Nächte in den Clubs der westlichen Metropolen.

(Foto: Glitterbeat)

Iveta Apkalna „Light & Dark“

[rating=3] Orgelmusik – Die ersten Solo-Orgelaufnahmen aus der Hamburger Elbphiharmonie.

Mit der Marke „Elbphilharmonie“ lässt sich werben. Das architektonisch spektakuläre Gebäude und sein Ruf als fabelhaftes Akustikwunder haben Hamburg binnen kürzester Zeit zu einem Zentrum der deutschen Musikwelt gemacht: Die Elphi ist „the place to be“. Und der Glanz der Philharmonie strahlt selbstredend auch auf die von Philipp Klais erbauten Orgel des Hauses ab.

Die Lettin Iveta Apkalna legt mit „Light & Dark“ die erste Solo-Orgelaufnahme aus der Elbphilharmonie vor. Erklärtes Ziel des Albums ist es, die Extreme des Instruments („Hell und dunkel“, „Kraft und Zärtlichkeit“ usw.) in seinen klanglichen Möglichkeiten bestmöglich abzubilden. Dazu wählte die Titularorganistin der Elbphilharmonie erfreulicherweise nicht die üblichen Orgel-Gassenhauer (sic!) von Bach, sondern modernere Werke von Schostakowitsch, Kalējs, Escaich, Gubaidulina, Janáček, Ligeti und Garūta. Das Programm erweist sich als klug gewählt und zusammengestellt: Es beginnt düster, wird dann introvertiert, dann expressiv, kontrastreich, Pathos-geladen, die Extreme auslotend und zuletzt leise und meditativ. Kein Zweifel: Mit der werbewirksamen Elbphilharmonie wird hier ein anspruchsvolles Programm an eine vermutlich breitere Käuferschicht gebracht. Das Instrument ist dabei der Star. Die gute Klangregie der Aufnahme lässt die Musik nah und gleichzeitig räumlich vernehmen.

So komplex die Musik, so aufwendig ist die Gestaltung der CD-Ausgabe (die Vinyl-Version lag mir leider nicht vor): Das edel gestaltete Digipak kommt mit einem Miniposter mit präzisen Angaben zum Orgelregister und einem 46-seitigen Booklet. Dieses enthält zahlreiche Bilder und ausführliche Informationen zur Musik, zur Künstlerin und zum Instrument.

Fazit: Eine anspruchsvolles und edles Debüt einer beeindruckenden Orgel in exzellenter Akustik mit einer technisch souveränen Solistin.

auf Youtube

Homepage von Iveta Apkalna

Homepage der Elbphilharmonie Hamburg

(Bild: Büro für Künstler)

Pablo Casals „Johann Sebastian Bach – The Cello Suites“ (3-LP-Box)

[rating=5] Barock – Pablo Casals‘ Jahrhundertaufnahme in edler Vinyl-Ausgabe.

Pablo Casals’ Aufnahmen der Cellosuiten Bachs gehören zu den ganz großen musikalischen und diskografischen Meilensteinen der Schallplatte im 20. Jahrhundert. Mehr noch: Erst durch Casals’ bahnbrechende Ersteinspielung rückten die Suiten in den Mittelpunkt des Cello-Repertoires und wurden Prüfstein für alle folgenden Generationen. Als Casals sie zwischen 1936 und 1939 aufnahm, war er bereits in seinen Sechzigern und hatte sich ein Leben lang mit den Kompositionen beschäftigt. Obwohl seine Einspielungen heute als interpretatorisch und spieltechnisch überholt gelten, haben sie nichts von ihrer Faszination verloren. Es bedarf nur einiger Noten und man versteht, warum Casals’ Aufnahmen durch die Jahrzehnte, jenseits aller Diskussionen um historisch authentisches Spiel, eine ungebrochene Faszination auf Hörer und Cellisten ausübten. Die Eindringlichkeit und Intensität mit der Casals musiziert, machen diese Einspielungen zeitlos, losgelöst von einer musikwissenschaftlichen Analyse.

Die Aufnahmen stammen aus der Schellack-Ära und sind naturgemäß klanglich nicht mit modernen Aufnahmen zu vergleichen. Dennoch: Das sorgfältige EMI-Remastering von 2011 holt vermutlich das maximale aus den Rillen heraus. Bei der nun erscheinenden, luxuriös ausgestatteten 3-LP-Box kommt dann das richtige Medium für die historischen Aufnahmen hinzu. Selbst bei einem direkten Vergleich mit der entsprechenden CD-Ausgabe von Warner Classics (dem Nachfolge-Label EMIs) kann die analoge Wiedergabe vollends überzeugen. Der Unterschied ist frappierend: Die Suiten klingen auf Vinyl viel natürlicher und wärmer als jeder Versuch, die 80 Jahre alten Aufnahmen auf CD zu pressen. Dies ist ein unverzichtbarer Meilenstein in jeder klassischen (Vinyl-)Sammlung.

Review vom 16.07.2001 zu Pablo Casals „J.S. Bach – Cello Suites No. 1-6“ auf schallplattenmann.de

Pablo (Pau) Casals auf de.wikipedia.org

Bach: Suiten für Violoncello solo auf de.wikipedia.org

(Bild: Warner Classics)

Sväng „Sväng plays Tango“

[rating=3] Nostalgisch

Der Markt für Gruppen wie Sväng ist nicht groß. Doch als vermutlich weltweit einziges Mundharmonika-Quartett hat es die finnische Gruppe weit gebracht. Nachdem sie im vergangenen Jahr mit dem Überblicksalbum „Hauptbahnhof“ ihr bereits 14-jähriges Bestehen haben Revue passieren lassen, widmen sich Sväng nun der heimischen Tango-Tradition.
Das klingt weniger befremdlich, als man vermuten mag. Der durch Metall-Lamellen erzeugte Klang der Mundharmonika ist dem Klang des Bandoneons durchaus verwandt – in den Höhen etwas schriller, während die Bass-Mundharmonika mit ihrem angenehm warmen Klang die dem finnischen Tango innewohnende Melancholie angenehm unterstreicht.

Die vier Musiker spielen den Tango rund und weich, man fühlt sich zum Fünf-Uhr-Tee ins altmodische Tanzcafé versetzt, in dem ein paar ältere Herren ihre Partnerinnen sanft in Schwung bringen. Dass es in „Syyspihlajan Alla“ („Unter dem Vogelbeerbaum im Herbst“) um den Kummer über die eingezogenen Lieben und das vergossene Blut des zweiten Weltkriegs geht , vermittelt sich dem unbedarften Hörer nicht. Den 1942 geschriebenen Tango könnte man aus der Distanz auch als verhalten-kecke Auftaktmelodie eines Kinderfilms taxieren.
Doch das Begleitheft korrigiert die Einschätzung und erklärt, dass die roten Früchte des Zierstrauchs für das Blutvergießen stehen.
Melancholie ist eine Grundstimmung des finnischen Tangos. Dadurch wirkt er selbst in einer exaltierteren Variante, wie sie Sväng mit „Hugolle“ spielen, noch ein wenig zurückgenommen. Das Stück ist eine der vier Eigenkompositionen, mit denen Sväng den Tango auf ihre eigene Art interpretieren. Auch der „Tango Humiko“, ein Gruß an ihre japanischen Fans, zählt dazu.

Warm, weich und trotzdem immer wieder akzentuiert – auch wenn dem finnischen Tango mehr Gemütlichkeit als Hang zur Dramatik innewohnt, legen Sväng eine überraschende und ungeahnte Verwandtschaft des finnischen Tango zur portugiesischen Saudade nahe. Vielleicht haben sie nur zu viel Cristina Branco gehört. Möglicherweise sind sich aber auch Nord und Süd viel näher, als der Blick auf den Globus nahelegt. Auf nach Norden.

Offizielle Homepage von Sväng

→ Der finnische Tango bei Wikipedia erklärt

(Foto: Galileo)

Werner Aeschbacher „Atchafalaya“

[rating=4] Heimisch und welthaltig, unaufgeregt-ruhig und trotzdem anregend

Das Album beginnt mit einem Seufzer, aus dem der bedächtige „La Valse de Marcel“ entsteht. Es ist eines der für Werner Aeschbacher typischen Stücke, bei dem man sich nichts anderes vorstellen kann, als dass er erst eben sein schweres Werkzeug weggelegt hat und mit eigentlich für grobe Arbeiten gemachten Fingern zum Örgeli greift und die Welt um ihn herum beruhigt. Die Vögel hören auf, sich am Futterhäuschen um die Körner zu streiten, die Katze lässt das Mausen sein und die Nachbarin hört auf, mit dem Geschirr zu klappern, und setzt sich auf die Hausbank neben die feuerroten Lilien.

Aeschbachers Musik mag ihre Wurzeln im Alpenraum haben. Aber die Zweige sind in die Welt gewachsen. Man spürt, dass sie in Finnland und Rumänien, in Südfrankreich und auch in den Südstaaten der USA den gleichen Effekt hervorruft.
Schon ab dem zweiten Stück – der „Steve Riley Stomp“ ist nicht dem Schlagzeuger der Hardrockband L.A. Guns gewidmet, sondern eine Komposition des gleichnamigen Cajun-Akkordeonisten – beginnt es ein wenig fremdländisch zu klingen, ohne dass einen Aeschbacher in gänzlich unvertrautes Gelände führt.
Seine eigenen Kompositionen wirken einfach und oft auf Anhieb so vertraut wie Volkslieder. Das gelingt ihm auch auf seinem neuen Album „Atchafalaya“, auf dem er seinen Aufenthalt in Louisiana (USA) verarbeitet und die meisten Stücke auf dem dort erworbenen Akkordeon spielt. Aber vielleicht sind sich Cajun- und Schweizer Akkordeonmusik ja viel ähnlicher, als wir wahrhaben wollen. Ein Indiz dafür könnte die Knopfharmonika aus Louisiana sein: Diese klingt ähnlich wie das Langnauer Örgeli, das der Akkordeonsammler schon seit Kindheit spielt.

Werner Aeschbachers Musik ist beschaulich, aber ohne billige Zerstreuung, traditionsbewusst, aber nicht rückwärtsgewandt, unaufgeregt-ruhig und trotzdem anregend. Seine immer kurzen Stücke sind nicht mit überflüssigen Verzierungen überfrachtet und man hört ihnen die Mühe nicht an, die es für die selbstverständliche Einfachheit braucht, die diese Kompositionen ausstrahlten. Ob Walzer, Swing oder Tango: Seine Stücke klingen immer leicht und klar und Aeschbachers Spiel wie selbstvergessen – als ob es ihm völlig egal ist, ob die Vögel zanken, ihm die Katze miauend eine Maus zu Füßen legt und die Nachbarin mit Tellerklappern seinen Rhythmus torpediert. Wahrscheinlich ist es das ja auch.

Bisherige Rezensionen zu Werner Aeschbacher auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Werner Aeschbacher

(Foto: Narrenschiff)

Uwe Schütte (Hrsg.) „Mensch – Maschinen – Musik“

Als Kraftwerk 2012 ins New Yorker Museum of Modern Art (Moma) eingeladen wurde, konnte man durchaus unken, dass die deutsche Band damit endgültig museal sei – und folglich auch ein Fall für das Archiv. Tatsächlich möchte man die Arbeitsmaterialien und Requisiten der Band so wenig dem Verfall preisgeben wie die Manuskripte von Franz Kafka. Und bei der Präsentation im Museum ist die Form der Darstellung entscheidend. Ralf Hütter als in der Band verbliebener Gründer (das zweite Gründungsmitglied Florian Schneider ist 2009 ausgeschieden) hatte nämlich schon im Jahr vor den Moma-Auftritten mit der 3D-Videonistallation im Münchner Lenbachhaus deutlich gemacht, dass er Kraftwerk nicht in den Archiven verstauben lassen, sondern mit neuen Ansätzen lebendig halten möchte.

Die Moma-Konzertreihe wurde in Museen anderer Länder wiederholt. Der Literaturwissenschaftler und Musikjournalist Uwe Schütte initiierte 2015 in Birmingham und Düsseldorf (im Umfeld der Konzerte in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) wissenschaftliche Konferenzen und legt nun eine umfassende Bestandsaufnahme zum – wie es im Untertitel heißt – „Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ vor.
Er geht dabei chronologisch vor und lässt seine Gastautoren Aspekte der jeweiligen Phasen beziehungsweise Alben beleuchten. Das reicht vom Frühwerk im Krautrock-Kontext über die einzelnen Alben („Autobahn“, „Radio-Aktivität“, etc.) bis hin zum „Katalog-Komplex“, der Zusammenfassung der acht Kraftwerk-Alben (2009) und zur späteren 3D-Retrospektive (2012).
In einem zweiten, „Diskurse“ genannten Teil dieser „Kraftwerkstudien“ geht der Band Themen wie den Texten der Gruppe, ihren Sound-Topographien oder der internationalen Ausstrahlung auf den Grund.

Die in „Mensch – Maschinen – Musik“ präsentierten Themen sind naheliegend. Die Texte erheben wissenschaftlichen Anspruch, sind dabei jedoch überwiegend so geschrieben, dass auch interessierte Nicht-Akademiker nur gelegentlich Wortbedeutungen nachschlagen müssen. Ohnehin sind nicht alle Analytiker dem akademischen Ansatz verpflichtet. (Ja, Analytiker: Die Kraftwerk-Analyse ist fest in männlicher Hand, nur zwei von 15 Texten stammen von Frauen.) Der Sammelband ist auf die Würdigung der deutschen Elektroniker angelegt. So mancher Text legt nahe, dass kritische Punkte ausgeblendet wurden. Der Schriftsteller und Journalist Enno Stahl wählt gleich den vertrauten journalistischen Ansatz und führt in seinen Text zum Album „Tour de France“ ungeachtet des mangelnden Erkenntnisgewinns damit ein, dass er wegen einer Hüftarthrose zwar wie Ralph Hütter Fahrrad fährt, jedoch nur Mountainbike.
Dass es auch besser geht, zeigt Ulrich Adelt. Der Dozent für amerikanische Literatur und Autor eines Buches über Krautrock verdeutlicht, dass Kraftwerks Frühwerk eine „Geschichte des gezielten Vergessens“ ist, um den Mythos zu pflegen, dass die Band mit „Autobahn“ (1974) aus dem Nichts gekommen sei. Und Eckhard Schumacher, Germanist mit Arbeitsschwerpunkt Gegenwartsliteratur und Pop, weist darauf hin, dass man die Kraftwerk-Geschichte der 80er-Jahre zwar als Erfolgsgeschichte lesen kann – die Gruppe aber nach mit den Alben „Autobahn“ und „Computerwelt“ den Zenit überschritten hatte und „es danach eher bergab ging“. Dafür wurde in dieser Phase die Flamme, die Kraftwerk in den 70er-Jahren entzündet hatten, von anderen weitergetragen – indem sich die New Romantics diesseits und Afrika Bambaataa jenseits des Atlantiks auf das deutsche Quartett bezogen.

Ob beabsichtigt oder nicht: Jede Auseinandersetzung mit der Band, jeder Beitrag zum Thema Kraftwerk – nicht nur in diesem Band – fördert die Mythologisierung der Gruppe. Beiträge, in denen der Fan spricht, werden eher eine kürzere Halbwertszeit haben als solche, die aus einer objektiveren Perspektive verfasst wurden. Doch darf man die Heterogenität der Texte als willkommene Abwechslung deuten – und als Ganzes betrachtet ermöglicht diese Bestandsaufnahme Kraftwerk-Eleven einen umfassenden Einstieg und Kennern eine fundierte Vertiefung mancher Aspekte der Band, die seit einigen Jahren viel unternimmt, um über den sicheren Platz im musikalischen Kanon hinaus ein fester Bestandteil der Kunstwelt zu werden.

Bisherige Rezensionen zu Kraftwerk auf schallplattenmann.de

(Foto: C.W.-Leske-Verlag)