Kategorie: Neu erschienen

Dinosaur Jr. „Give a Glimpse of What Yer Not“

dinosaur[rating=3] Solider Indie-Rock aus der Prä-Grunge-Ära

J. Mascis ist ein Kauz, um das Mindeste zu sagen. Maulfaul, verschroben, lebt in seiner eigenen Welt. Irgendwie logisch, dass der Sänger, Gitarrist und Kopf der amerikanischen Indie-Band Dinosaur Jr. von aktuellen Trends völlig unbeeinflusst scheint. Einerseits ist das sympathisch, denn der gegenwärtige Zustand der Rockmusik mag manchem nicht so beneidenswert erscheinen. Andererseits vermitteln bereits die ersten Takte der neuen CD ein äusserst seltsames Gefühl eines Dé­jà-vu.
Hat man nicht genau diese Schrammelgitarre und diesen leicht nöligen Gesang schon in den Achtzigern gehört? Stammen die Aufnahmen wirklich aus dem Jahre 2016 und nicht von 1987? Damals erschien mit „You’re Living All Over Me“ die zweite CD von Dinosaur Jr. Sie entzückte die Kritiker und eine Handvoll Fans. Das Album nahm das vorweg, was unter dem Etikett Grunge etwas später Nirvana zum Erfolg verhalf. J. Mascis, Lou Barlow, der Bassist und Drummer Murph hatten ausser Anerkennung wenig davon abbekommen. Ob dies Mascis störte, ob er es überhaupt zur Kenntnis nahm, bleibt ungewiss. Knapp dreissig Jahre später klingt der Mann, mittlerweile auch schon fünfzig, wie ehedem. Fortschritt in der Musik? Ach, lass mal. Erwachsen werden? Wozu?
Nun hört und sieht man bei Live-Auftritten also drei ältere Herren, die auf ihre Instrumente eindreschen wie Jungspunde, ihre ergrauten Mähnen im Takt schütteln und versuchen, eine gute Zeit zu haben. Ist das heute Relevant? Nein. Ist das unterhaltsam? Durchaus. Braucht die Welt den amerikanischen Indie-Gitarren-Sound der Achtziger heute? Muss jeder individuell entscheiden.
„Give a Glimpse of What Yer Not“ wird daher vermutlich das Small-Time-Business von Mr. Mascis und seinen Kumpels nicht auf das nächste Level heben. Die Band wird damit auch keine Trends setzen und wortgewaltige Kritiker zu Begeisterungsstürmen über die Zukunft des Pop hinreißen. Ebenso werden die permanent aufgeregten Teilnehmer des medialen Rockzirkus die Platte vermutlich ebenso ignorieren wie bereits 1987 den Vorgänger. Gut so, denn wer nichts Neues erwartet, wird hier solide bedient. Mascis singt über irgendetwas, seine Gitarre jault und knarzt verzerrt, bisweilen zeigen sich ansatzweise Melodien, der Bass bleibt solide auf dem Teppich und der Drummer trommelt eben. Ein schnellerer Song, dann ein ruhigerer, mal ein bisschen Dylan oder Neil Young und ganz viel Dinosaur Jr. – von zarten Momenten bis hin zu Feedback-Gewittern. Wie gesagt: nichts Neues – Welcome to J’s World, if you please.

(Cover: Dinosaur Jr. Bandcamp)

Aaron Neville „Apache“

Aaron Neville[rating=3] Gutes Album, solide Unterhaltung, reifes Alterswerk

Die Zeiten sind hart, die Welt ist ein grausamer Ort, manchmal. Von persönlichem Leid und auch mancher Freud‘ weiß der Blues zu berichten, doch so richtig warm ums Herz wird es dem Hörer zumeist erst bei klassischem Funk und Soul. Aaron Neville, der auch schon 75 Jahre alt und seit 56 Jahren musikalisch aktiv ist, denkt nicht an die Rente. Stattdessen legt er mit „Apache“ ein solides, ja gutes Album vor. Natürlich erfindet der Mann das Genre nicht neu. Wer das erwartet, wird bereits mit den ersten Takten von „Be your Man“ eines Besseren belehrt: Die Funk-Gitarre setzt trocken ein, das Piano begleitet und die Bläser bilden Akzente, bevor die unverwechselbare, samtweiche Stimme Nevilles anfängt und kurze Zeit darauf von einem Chorus unterstützt wird. So hätte eine Funkplatte auch 1972 beginnen können. Macht aber nichts, denn die alten Platten knistern arg, und so hat man das auch lange nicht mehr gehört. Und es gefällt.
Aaron Neville war seit 1966 und der Veröffentlichung seines Hits „Tell it like it is“ eher auf Balladen abonniert. Mit seinen Brüdern, den, richtig, Neville Brothers, erweiterte er das Spektrum durch Einflüsse von Cajun, Funk, R’n’B und Pop. Geboren in New Orleans, wie er uns im zweiten Titel „Stompin‘ Ground“ wissen lässt, und mit indianischem und kreolischem Blut in den Adern, ist der Mann natürlich mit allen musikalischen Wassern gewaschen. Doo-Wop-Reminszenzen fehlen ebensowenig („Sarah Ann“) wie Anleihen beim Soul der Sechziger in „All of the Above“. Diese Hymne an die Kraft und die Freuden der Liebe könnte auch von Solomon Burke oder ähnlich schwergewichtigen Kalibern stammen.
Das ganze Album ist fast wie ein bunter Katalog der schwarzen amerikanischen Musik der letzten fünfzig Jahre angelegt. Aber Neville ist vital, fit und hörbar gut bei Stimme. Das spielt den Komponisten in die Hände, versierten Profis, die einen guten Sänger mit guten Titeln versorgen. Da darf ruhig mal der Schunkel-Rhythmus ausgepackt werden („Heaven“), bevor es nach Art der Neville Brothers gehörig groovt („Hard to believe“). Die Zeiten sind hart, aber man muss halt weitermachen, so der Tenor dieses ‚Social Topic-Songs‘. Aber selbst Sozialkritik verpackt Aaron Neville mit seiner samtweichen Stimme so, dass die Füsse wippen. Noch besser geht „Ain’t gonna judge you“ in die Beine. Hier geht es darum, erst einmal vor der eigenen Türe zu kehren, bevor man über seinen Nächsten urteilt. Die Texte entstammen Nevilles Tagebuchskizzen, die er seit langem führt. Christliche Botschaften und dazu ein knochentrockener Sound: so amerikanisch wie der Musiker selbst. Dann wieder ein Schnulze Marke „Schatz, ich will dich doch nur lieb haben“ („I wanna love you“). So ist das amerikanische Show-Biz eben. Am Ende richtet der alte Hase, der Einiges gesehen hat, eindringliche Worte an junge Möchtegern-Gangsta, die im Grab landen, bevor sie das Leben richtig verstanden haben („Make your Mama cry“). Abschließend gibt es noch eine Prise Neville-Brothers-Sound mit Sprechgesang vom Meister. Gutes Album, solide Unterhaltung, reifes Alterswerk.

(Cover: Rough Trade)

 

Mick Harvey Delirium Tremens

MickHarvey_DeliriumTremens_Packshot[rating=3]Dicht am Original: Serge Gainsbourgh-Cover-Album, dritter Akt.

Mick Harvey, der australische Gitarrist und Weggefährte von Düstermann Nick Cave, legt sein seit 1985 drittes Album mit Kompositionen des französischen Sängers Serge Gainsbourgh vor. Was reizt einen wie Harvey an diesen Titeln? Zunächst vermutlich der Gegensatz zum Rockgenre. Harvey merkt an, dass in seiner australischen Heimat seinerzeit selbst amerikanische Musik schwer zu bekommen war; französische Neo-Chansons von Serge Gainsbourgh vermutlich noch viel mehr. Bekannt waren dort nur, ähnlich wie in Deutschland, der Song „Je t’aime“, das Duett mit seiner damaligen Lebensgefährtin Jane Birkin. Jenes Opus fehlte seinerzeit bei keiner Pubertierenden-Party, wenn sich nach Mitternacht die Paare fanden und verschmolzen. Bekanntlich hat Serge Gainsbourgh viel mehr Musik gemacht. Diese fand jedoch außerhalb der französischen Landesgrenzen nur wenig Interesse.

Bei „Delirium Tremens“ handelt es sich um ein Liebhaberwerk, was bei Harvey nicht kritiklose Hingabe, sondern kongeniale Neuinterpretation bedeutet. „SS C’est Bon“, von Gainsbourgh ursprünglich als Provakation gegen jene Landsleute gedacht, die dem Vichy-Regime von Hitlers Gnaden und der späteren deutschen Besatzung durchaus positive Züge abgewinnen konnten, kommt hier als Mischung aus Bad-Seeds-Krach und schwarzem, zynischen jüdischen Humor daher, garniert mit Elementen der deutschen Nationalhymne. Harvey hat sich die Mühe gemacht und die französischen Texte allesamt ins Englische übersetzt, wobei er an den Übersetzungen teils schon seit den Achtziger-Jahren feilte.
Wie bei seinen ersten Alben mit Gainsbourghs Songs, „Intoxicated Man“ und „Pink Elephants“ wurden bereits 2014 als Doppelpack wiederveröffentlicht, interpretiert Mick Harvey Titel aus den verschiedenen Schaffensperioden des Chansonniers. Das erwähnte „SS C’est Bon“ entstammt dem skandalträchtigen Album „Rock around the Bunker“ von 1975, „Coffee Colour“, dagegen, eine Hommage an Mädchen mit dunklem Teint, aus den frühen Sechzigern. Gainsbourgh zog als Musiker und Sänger alle Register, während Mr. Harvey die Songs in beinahe stoischem Ton herunterbrummt. Das macht er aber so, dass es schon wieder Spass macht. Musikalisch erlaubt der Mann sich ebenfalls kaum Extravaganzen, sondern bleibt dicht beim Original. Hin und wieder bearbeitet Mick Harvey die Songs und lässt auch mal teutonische Rhythmik á la Rammstein einfliessen. Die Duette jedoch – unter anderem mit Gattin Katy Beale („The Decadance“) – wirken fast, als ob die Ehrfurcht die Oberhand behält. Dies führt dazu, daß an den Neuinterpretationen nur der wirklich Spass hat, dem Gainsbourgh und seine Musik gefallen. Noch mehr Spass hat vermutlich der, welcher die Originale kennt und vergleichen kann.
Das Album ist dennoch keine elitäre Sache für Eingeweihte, sondern bietet die Gelegenheit, das Werk des kontroversen französischen Dandys und Musikers zu entdecken. Harvey und seine Band machen ihre Sache dabei überwiegend recht gut. Anders als der übermäßige Genuß von zuviel Alkohol hat „Delirium Tremens“ praktisch keine schädlichen Nebenwirkungen – ausser einigen Momenten gepflegter Langeweile.

(Cover: Mute Records)

 

Danças Ocultas & Dom La Nena, 16.06.2016, Freudenhaus, Lustenau (A)

Dancas-5422Es muss Liebe sein. Anders ist nicht zu erklären, dass eine hochgradig originelle Gruppe wie Danças Ocultas die Bühne mit einer Musikerin teilt, die ihre Musik schwächt. Dom La Nena, wie sich die Mittzwanzigerin Dominique Pinto nennt, ist nicht mehr als ein billiger Abklatsch ihrer polnisch-amerikanischen Kollegin Ashia Grzesik aka Ashia Bison Rouge.
Wie diese – wenn auch weit weniger originell – schichtet Pinto geloopte Cello-Sequenzen übereinander. Diese sind das Gerüst für ihre simplen Lieder. Doch während Ashia über eine ausdrucksstarke Stimme und Songwriting-Talent verfügt, bleibt bei Dominique Pinto hauptsächlich die Lichterkette in Erinnerung, mit der sie ihre Ukelele illuminiert, zu der sie für einige Solo-Stücke wechselt. Dass ihr damit sogar eine berührende Interpretation eines von einem Landsmann geschriebenen Liebeslieds gelingt, tröstet nicht über den Rest ihres Auftritts hinweg. Sie agiert auf dem Niveau eines Bierzeltunterhalters – was eine hochkarätige Kammermusik-Soiree alles andere als aufwertet.

Das Cello mag eine nette Klangfarbe sein, doch so unoriginell, wie es Dom La Nena spielt, bleibt es effektlos. Und ihren Gesang braucht die Musik der Danças Ocultas zumindest solange nicht, solange dieser an Eigenständigkeit und Originalität meilenweit hinterherhinkt.
Wenn Dom La Nena gemeinsam mit den Danças Ocultas spielt, scheint das die ganze Gruppe zu hemmen. Die vier Akkordeonisten spielen dann wie mit angezogener Handbremse. Dagegen legen sie wie gewohnt los – mal verschmitzt, oft verspielt und immer wieder opulent und mit einem wuchtigen Bass unterlegt –, wenn der Hemmschuh weg ist. Wenn Dom La Nena die Bühne verlässt, wirkt das wie ein Wetterwechsel. Dann bricht zwischen trüben Wolken die Sonne durch und lässt die Landschaft leuchten. Doch diese nicht nur gefühlt viel zu kurze Zeit reicht nicht aus, um die dunklen Wolken der Erinnerung zu vertreiben. Dabei spielen Danças Ocultas durchweg makellos, und ihre nach wie vor eigenständige und eigenwillige Mischung mit Zitaten aus Tango und Volksmusik hat auch nach mehr als 25 Jahren nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Ihre Eigenkompositionen sind originell, die Interpretationen von Stücken anderer Komponisten eigenständig. Sie faszinieren mit lyrischen Passagen, setzen gekonnt auch mal nur den mit dem Balg erzeugten Luftstrom in Szene und brausen immer wieder orchestral auf. Hätten die vier doch nur Carminho mitgebracht, mit der sie demnächst Live-Aufnahmen veröffentlichen. Mit ihr hätten sie wahrscheinlich sogar den Regen vertrieben, der während des Konzerts den halben Vorplatz unter Wasser gesetzt hat.

Bisherige Rezensionen zu Danças Ocultas auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Danças Ocultas

(Foto: TheNoise)

Palace Winter „Waiting for the World to turn“

TAMB138DA_rgb_web[rating=3]Gelungener Einstand

Debüt des australisch-dänischen Duos, das bereits mit seiner EP „Medication“ aus dem Jahre 2015 eine gewisse Aufmerksamkeit für seinen verspielten Psychedelik-Sound erzeugte. Carl Coleman und Caspar Hesselager gehen dabei erneut clever vor. „Dune Wind“, der Eingangstitel zieht einen mit seinem Piano, den Synthies, der langsam einsetzenden Gitarre und dem wie verweht wirkenden Gesang geradezu in den Klangkosmos von Palace Winter. Das ist Absicht, wie Hesselager bekennt: Er wolle den Hörer in die weite, luftige Klanglandschaft locken und dann eine Weile darin festhalten. Dieser Dünenwind erinnert an Krautrock, Psychedelia und Pop und fesselt durch das Songwriting. Der Text handelt, soweit verständlich, von Erwartungen oder eben einfach davon, dass man auf etwas wartet. Hatte sich der Hörer gerade in der endlosen Weite des Raumes eingerichtet, überfällt ihn mit „Hearts to Kill“ ein irgendwie klaustrophobisches Klanggewirr aus übereinandergelegten Gitarren- und Synthesizerschichten. Eine Reise lebt halt von Kontrasten und verschiedenen Eindrücken. Deshalb bietet Titel Nummer Drei,“Positron“, diese in hohem Maße. Mit seinem Piano, der treibenden Gitarre mit starken Anklängen an die Sechziger fast überdreht, schlägt etwa in der Mitte die Stimmung um, der federnde Rhythmus wird plötzlich stark verlangsamt und der Sänger setzt aus. „Positron“, so die Musiker, beschreibe als Begriff ein hyperaktives Individuum an der Grenze zur Hysterie, eine Art bipolares Muster zwischen Depression und Überschwang.

Kennengelernt haben sich die Beiden übrigens 2013 auf einer Tour durch Dänemark, als die Band The Rumour said Fire, bei denen Hesselager als Keyboarder spielt(e) von Coleman begleitet wurden. Daraus erwuchs die Idee zum Projekt Palace Winter.
Beide haben eine Vorliebe für gute Melodien, leicht versponnene Texte, perlende Gitarren und flächige Synthesizer. Ein gutes Beispiel dafür ist „Soft Machine“, ein Song, der alles das aufs trefflichste bietet, obendrein luftig daher kommt und gedankliche und räumliche Weite entstehen lässt. Palace Winter können aber auch einfach Pop, wie sie mit dem radiotauglichen „HW Running“ beweisen. Doch dauerhaft können und wollen Palace Winter nicht dem Uptempo-Fröhlich-Sound frönen. Daher kommt mit „What Happend?“ gleich anschließend ein Midtempo-Song, der vom Selbstmord eines Nachbarn der Beiden handelt. Das ernste Thema offenbart sich nicht sofort, da das Ganze mit dem Klang von 80er-Jahre-Synthies bitter-süß daherkommt. „Proclamation Day“ stellt erneut das Songwriting und das E-Piano heraus, zieht sich jedoch etwas in die Länge. Definitiv lang ist der Doppeltitel, mit dem „Waiting for the World to turn“ schließt. „Dependance“ ist eine Ballade, eine Fahrt durch eine dunklen Tunnel („My Dependance of you frightens me/What if they took you away“), die „Independance“ dynamisch aufnimmt und aus dem dunklen Gefühlstunnel wieder hinausführt.

(Foto: Tambourhinoceros)

Graham Candy „Plan A“

candy[rating=2] Etwas unsicher wirkender Versuch eines Paradiesvogels, der es jedem und allen recht machen will.

Graham Candy ist ein junger Singer-Songwriter aus Neuseeland, der 2013 auszog, um sein Glück in Deutschland zu suchen. Einen Teil des Glücks hat er in der Zusammenarbeit mit dem Berliner DJ Alle Farben gefunden, an dessen Debütalbum „Synthesia“ (2014) er mitarbeitete. Das von ihm gesungene „She Moves“ landete als erste Single-Auskoppelung in den Top-Ten der deutschen Charts.
Nun legt er sein Debüt mit dem Titel „Plan A“ vor, denn, so der junge Mann: „Ich brauche keinen Plan B. Ich habe meinen Plan A und den setze ich um.“ Sein musikalisches Tun ist demnach alternativlos, ein Begriff, der zumindest in diesem, unseren Lande gerne von Königin Angela I. verwandt wird. Wie in der hohen Politik, so in den Niederungen der Pop-Kultur: Was heute als zwingend verkauft wird, mag morgen schon ganz anders aussehen. Im Falle Candys ist dies sicher so. Denn er ist bereits als Schauspieler in Erscheinung getreten und hat sozusagen ein zweites Standbein. Tapfer sagt Candy über seine beiden künstlerischen Tätigkeiten, daß die Schauspielerei „nicht echt“ sei, eben nur gespielt. In seiner Musik hingegen sei er ganz bei sich, also er selbst. Dies mag in Maßen für seine heiser-helle Stimme gelten, die dann und wann an Asif Avidan erinnert. Man könnte Avidans und Candys als Frauenstimmen einschätzen, wüßte man es nicht besser.

Die zwölf Songs von Candys Debütalbum changieren irgendwo zwischen Euro-Pop, Singer-Songwriter (etwa in „Heart of Gold“, ein Monolog an den fernen Vater) und Dancefloor. Immer dann, wenn man für Augenblicke den Reiz der androgynen Stimme geniesst oder die Komposition eingehender hören möchte, fallen echte und elektronische Streicherarrangements und zahllose Background-Sänger über die Songs her. Das kann Adele, die Candy als Vorbild nennt, deutlich besser. Bei ihr ertrinken die Songs nicht in üppigen Arrangements, denn sie sind speziell dafür geschrieben, sozusagen als Breitwand-Pop konzipiert. Bei Graham Candy wirkt es aber eher so, als ob er seiner Musik und seiner Stimme noch nicht so ganz traut. Oder wurde er von seinen Produzenten überredet, den ganzen Sirup aus Streichern und Sängern über die im Durchschnitt ganz netten Titel zu gießen?
Manchmal funktioniert es ja, wie im Titel „Little Love“. Aber bei der Ode an den Vater wirkt es leider ebenso überfrachtet wie beim Opener des Albums, „Home“. Letzteres beginnt ohne Chor und dem ganzen anderen Bombast – und mit der nette Zeile „I want to go home, but not now“.

Graham Candy sollte also seinen Plan nochmals überdenken und sich fragen, was er wirklich will: Klavierballaden, Folkie-Kitsch wie in „Broken Heart“ – Mumford & Sons lassen grüßen –, Electrobeats, Indiepop oder das große Musiktheater Adeles. Alleine die markante Stimme reicht weder als stilistische Klammer, noch um aufzufallen oder ein ganzes Album zu tragen. Wenn er sich tatsächlich nicht festlegen will, sollte Candy beim nächsten Mal zumindest auf den unsäglichen Backgroundgesang verzichten. Denn mit diesem ruiniert er selbst seine Hommage an Jeff Buckley („Memphis“) – auch dieser ein bunter Vogel. Daher erscheint Graham Candys Debüt als etwas unsicher wirkender Versuch eines Paradiesvogels, der es jedem und allen recht machen will.

Offizielle Homepage von Graham Candy

(Foto: BMG)

Savina Yannatou, 13.5.2016, Freudenhaus, Lustenau (A)

Yannatou-4300Die Lage war auch vor hundert Jahren nicht besser, nur kamen die Flüchtlinge aus anderen Ländern: Damals suchten Türken, Bulgaren und Mazedonier, Serben, Armenier und andere Schutz in Griechenland, machten Thessaloniki zum Schmelztiegel und ergänzten den heimischen Musikfundus.
Savina Yannatou und Primavera en Salonico präsentieren Stücke der Migranten, die während des Ersten Weltkriegs über das Schwarze Meer gekommen waren, und eines der irischen Soldaten, die im Zweiten in der griechischen Stadt stationiert waren. Diese ergänzt sie um einige Lieder der sephardischen Minderheit (Thessaloniki sei um 1940 als ‚Jerusalem des Balkans’ bezeichnet worden, erzählt Savina Yannatou) und um weitere aus dem Mittelmeerraum.
Die überwiegend getragenen Lieder wurden mit traditionellem Stilbewusstsein und einem großen Sinn für die Moderne arrangiert. Die Gruppe von Savina Yannatou bringt die Volksmusik nicht nur auf konzertantem Niveau, sondern spielt auch verschmitzt mit dem Material. Dann lässt Michalis Siganidis die Finger auf die Basssaiten prasseln wie Regentropfen, da unterlegt Kyriakos Gouventas die avantgardistische Lautmalerei von Savina Yannatou mit einer Caféhausgeige, und gelegentlich stacheln sich Geige und Akkordeon zu verspielten kleinen Duellen an.

Savina Yannatou und ihre Mitstreiter bieten so weit mehr als konzertante Volksmusik. Sie bringen die innere Kraft der Lieder zum Leuchten und verweben den Klang der traditionellen Instrumente – auch Ney, Kanun, Oud und hervorragend unaufdringlich akzentuierte (Rahmen-)Trommeln und Becken erklingen – mit modernen Stilmitteln. Das ist traditionell und modern, intim und welthaltig.

Bisherige Rezensionen zu Savina Yannatou auf schallplattenmann.de

Offizielle Homepage von Savina Yannatou

(Foto: TheNoise)

Milow „Modern Heart“

milow[rating=3]Der Belgier Milow scheint ein Optimist zu sein, oder aber zumindest ein moderner, aufgeklärter Mann.

Milow denkt sich vermutlich nichts dabei, seine nunmehr fünfte Platte am Freitag, den 13. zu veröffentlichen. Das Dunkle, Mystische war ohnehin nie sein Thema, auch wenn es in „Howling at the Moon“ auf den ersten Blick so scheint. Dabei geht es in dem Song um „mehr Licht“, wie Milow erläutert: es sei „ein total einfacher Folksong mit sommerlichem Flair“. Stimmt, man kann den Titel gut an einem sommerlichen Tag hören, vielleicht in einem Café am Wasser. Trotzdem ziehen die Songs nicht einfach vorüber wie ein laues Lüftchen, und inhaltlich geht es auch weniger um Girls, Eiscreme oder den endlosen Sommer. Dafür ist Milow denn doch zu erwachsen und ernsthaft.
So finden sich in seinen neuen Liedern durchaus Themen wie soziale Vereinsamung trotz steter Online-Verfügbarkeit („Lonely One“), oder – wie in „The Fast Lane“ – auch um Reminiszenzen an die eigene Kindheit in einer belgischen Kleinstadt: „I’m from a town where nothing ever takes you by surprise (…) I know that’s why I pushed so hard to get out of there“. Einen „Soundtrack für Sorgen, Zweifel und Träume“, den Milow nach seinem Bekunden mit „Modern Heart“ schaffen wollte, hören da jedoch höchstens notorisch Depressive heraus. Denn das Rastlose, Zweifelnde mancher Textzeile wird in der Regel von einer eher fröhlichen Melodie wieder in die Schranken verwiesen.
Gleiches gilt stilistisch: Milow sagt, er habe etwas Neues ausprobieren, sich weiter entwickeln und aktuelle Klänge adaptieren wollen. Die Vielzahl der beteiligten bekannten Produzenten und Songschreiber bleibt aber glücklicherweise überwiegend unaufdringlich. Im Vordergrund stehen, wie gewohnt, Milows Stimme und seine akustische Gitarre. Daran ändern auch orchestrale Elemente, Elektronika oder Drumbeats nichts, und das ist auch ganz gut so. Allzu groß sind die Unterschiede zu den vier vorigen Alben also nicht. Aber man trifft auf von dem Sänger so bislang nicht gehörte Elemente. Sie erweitern und ergänzen das bekannte Klangspektrum Milows, ersetzen es jedoch nicht.
Milow operiert wie gewohnt im Singer-, Songwriter-Genre und macht das auf seine eigene Art auch ganz gut. Fröhliche Melodien und durchaus nachdenkliche Texte sind bei ihm kein Widerspruch, aber der Weltverbesserergestus vieler Folkies fehlt ihm. Gut acht Jahre nach seinem bislang größten Erfolg mit dem 50-Cent-Cover „Ayo Technology“ bietet „Modern Heart“ also den vorsichtigen Versuch einer Modernisierung seiner Musik. Insgesamt ein angenehmes Album für den Sommer, das man auch im Herbst noch hören kann.

Marc Ribot, 7.5.2016, Spielboden, Dornbirn (A)

Marc Ribot-4028Marc Ribot wirkt wie ein Keith Jarrett an der Gitarre. Den Kopf auf den Korpus gepresst, scheint er völlig entrückt. Sein Instrument umklammert er wie einer, der die Karikatur eines Gitarristen abgeben will. Als ob er in seiner eigenen Welt lebte, spult er lange seine verschroben-dissonanten Läufe ab, schabt in kindlicher Ernsthaftigkeit mit dem Luftballon über die Saiten und lässt den angeleckten Daumen über den Korpus quietschen, bevor er sich das erste Mal mit einem kurzen Kommentar ans Publikum wendet. Die sparsame Kommunikation ist kein Zeichen einer Verweigerungshaltung, sondern eines seiner Konzentration.
Längst sind wir gewöhnt, dass die Gitarre mit Bogen gespielt und mit Dingen traktiert wird, die nicht zum Musikmachen gedacht sind. Marc Ribot setzt einen zweiten Steg hinter das Schallloch oder klemmt eine Nagelfeile zwischen die Saiten. Das ist manchmal effektvoll, zum Staunen bringt jedoch eher die Frage, ob tatsächlich Anklänge an „As Time Goes Bye“ oder „Somewhere Over The Rainbow“ herauszuhören waren, oder ob das nicht vielmehr am haluzinogenen Spiel Ribots liegt.
Die Stücke, die Ribot gewählt hat, sind keineswegs so simpel, wie sie mitunter wirken. Er zeigt sich immer wieder raffiniert, wenn er beispielsweise gleichzeitig mit dem Plektron anschlägt und mit den freien Fingern zupft, lässt aber oft die Saiten achtloser schnarren als notwendig. Stil ist alles und Perfektion überbewertet, teilt er mit dem rustikalen Fingertapping mit, und wenn der Luftballon vor der Zeit platzt, so ist das auch nicht weiter tragisch. Der Abend ist ein besonderes Wechselbad, aber nicht zwischen gut und schlecht, sondern zwischen anheimelnd melodiös und zwanglos avantgardistisch.
Marc Ribot wandert wie gewohnt zwischen Jazz, Neuer und populärer Musik, bringt Stücke von John Zorn und seinem einstigen Lehrer Frantz Casséus, dessen Kompositionen prototypisch Sperrigkeit und Melodiosität vereinen, die auch Ribots Werk ausmacht.

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(Foto: TheNoise)

Teho Teardo & Blixa Bargeld „Nerissimo“

TEHO_TEARDO_BLIXA_BARGELD_Nerissimo_Album_500[rating=2] Kunstvoll schwarz

Keine Frage ist so schnell beantwortet wie: Was macht eigentlich Blixa Bargeld so? Das, was er immer macht … Kunst!

Während Nick Cave – sein ehemaliger Chef im Zweitjob bei den Bad Seeds – langsam aber sicher in seine bequemen Hausschlapfen hineinwächst, frönt Blixa immer noch der reinen Kunst.
Nach diversen Theater- und anderen Projekten geht es in seiner schon seit einiger Zeit bestehenden Partnerschaft mit dem Musiker und Filmkomponisten Teho Teardo tief hinab in den Keller. Aber nicht, um zu Lachen!
Schon der Albumtitel „Nerissimo“ (ital. für „schwärzer geht es nicht mehr“) gibt die Richtung vor. Auch die Texte lassen nur schlimme Vermutungen über das Seelenheil der Musiker – und vielleicht auch der Hörer – zu.

„There ist no more darkness left“, „Oh my head is empty“, „Yes my dream is wrong“, „Nachts schieß ich mich weit weg ins All“ – leider geht es so weiter. Die zum Teil aus der Klassik entlehnte Instrumentierung und die literarischen Anspielungen sind auch eher für Freaks.

Wer keine Angst vor dem ‚Schwarzen Mann‘ hat, kann ja einen Selbstversuch wagen …

(Cover: add-on-music.de)